Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Kindheit und KriegDas Lager von Sered [1]Unter diesen Umständen waren wir nicht mehr in der Lage den Verfolgungen zu widerstehen. Wir fanden, dass wir ihnen noch ein oder zwei mal entkommen konnten, aber dass wir schließlich doch alle gefangen genommen würden. Jede unserer alltäglichen Handlungen war riskant. Überall gab es Beschränkungen, speziell was das Reisen anging. In den Zügen gab es Kontrollen und auf den Straßen Blockaden. Unserem Vater wurde dann von einem Arbeitslager, das sich gerade im Aufbau befand, berichtet. Die Verwaltung dieses Lagers sei überdies auf der Suche nach geschulten Fachkräften. Eine große Tischlerei war unter den Werkstätten, die hier vorgesehen waren. Da er sich mit Holz aller Art gut auskannte, traf er die Entscheidung, in dieses Lager zu gehen. Natürlich konnte er nicht vorhersehen, dass sich dieses Lager später zu einem Anhalte- und Deportationslager entwickeln sollte. Vor der endgültigen Entscheidung wurde die Sache in unserer Familie gründlich besprochen. Wir dachten zu dieser Zeit einfach, dass das Lager der beste Weg war, unser aller Leben zu retten. Da wir freiwillig ins Lager gingen, hatten wir Anspruch auf eine „Gelbe Karte“. Diese ermöglichte es Juden in der Slowakei zu bleiben, ohne ausgewiesen zu werden. Im Großen und Ganzen wurde diese Art der Bescheinigung denjenigen Juden ausgestellt, deren Fähigkeiten für die slowakische Wirtschaft von zentraler Bedeutung waren. Ende 1942, als die meisten slowakischen Juden bereits nach Polen deportiert worden waren, befanden wir uns immer noch in der Slowakei. Wir kamen in das Lager von Sered ziemlich genau zu jener Zeit, als es zu einem Anhaltelager für jene Juden wurde, die nach ihrer Erfassung und Selektion nach Polen deportiert wurden. Jede Woche verließen zwei oder drei Transporte Sered in Richtung Auschwitz. Das Lager lag an der Bahnlinie nahe der Stadt Sered, ca. achtzig Kilometer östlich von Pressburg. Im Lager selbst befanden sich Wohnbaracken, eine große Tischlerei sowie andere Werkstätten. Ein Krankenhaus gab es in der Nähe. Bei unserer Ankunft wurde uns für die ganze Familie ein Zimmer von drei mal vier Metern zugeteilt. Keine Toilette oder fließendes Wasser. Dieses Zimmer befand sich in der Baracke Nummer eins, in der alle Funktionsträger untergebracht waren – die Leitung der Tischlerei und der Schlosserei, der Polizeichef und andere mehr. Wir passten uns langsam an die harten Bedingungen im Lager an. Das Schlimmste waren aber die schrecklichen und Angst einflößenden Szenen der abgehenden Transporte. Die slowakischen Behörden organisierten diese Deportationen. Dennoch wurden auch Flucht- und Rettungsversuche unternommen. Sehr oft endeten diese in harten Strafmaßnahmen wie Prügel, Folter oder Tod. Im Lager selbst trafen wir auf Familien und Freunde, die wir von früher kannten. Wir versuchten manchen zu helfen. Ohne Erfolg. Man muss sich heute auch immer darüber im Klaren sein, dass jede Person im Lager jederzeit die Gefahr vor Augen hatte, deportiert zu werden. Diese Situation war dann besonders gefährlich, wenn bestimmte Quoten erfüllt werden mussten. Dann wurden auch scheinbar geschützte und sichere Personen mitdeportiert. Die Hlinka-Garde organisierte und plante die Transporte besonders gerne an hohen jüdischen Feiertagen. Wir erinnern uns besonders an Yom Kippur 1944. Einige orthodoxe Juden, die wir aus Vrbové kannten, fasteten und beteten den ganzen Tag. Am Abend dieses Tages wurde eine größere Gruppe von Juden zum Appell zitiert, um dann deportiert zu werden. Unter ihnen war auch ein guter Freund, Laci Manheim, ein sehr gläubiger und anständiger Mann. Trotz seiner Gebete und seinem Fasten wurde er deportiert, hungrig und gedemütigt. Dies war sicherlich einer der schrecklichsten Transporte. Dieser Zustand der Angst und des Schreckens dauerte ein ganzes Jahr lang an. Die Männer der Hlinka-Garde waren grausam. Schon ihnen zu begegnen oder sie nur zu sehen erfüllte uns mit Angst und Panik. Gegen Ende des Jahres 1942 wurden die Deportationen vorerst einmal eingestellt. Dies war auf einige diplomatische Interventionen sowie auf Order aus Deutschland zurück zu führen. Das Lager wurde wieder zu dem, was es ursprünglich sein sollte: ein Arbeitslager für alle, die sich darin aufhielten und darin blieben. Wir konnten wieder zu einem „normalen Leben“ zurückkehren. Trotz der fürchterlichen Wohnsituation und der miserablen Verpflegung fügten wir uns erneut in das Leben im Lager ein. Bereits 1942 wussten unsere Eltern über das Ziel der Transporte Bescheid. Informationen darüber erhielten sie von Juden, die aus Auschwitz oder anderen Lagern entkommen waren. Diese berichteten detailliert über das Schicksal der Juden in Polen. Wir wussten natürlich nur Bruchstücke der ganzen Wahrheit. Aber sogar diejenigen, die informiert waren, konnten es kaum fassen und es sich nicht vorstellen, dass solch fürchterliche Dinge tatsächlich passieren konnten. Einmal wurde Juden auch das Angebot gemacht, zum Christentum zu konvertieren. Manche taten es. Aus irgendeinem Grund hat unser Vater eine Konvertierung jedoch nicht in Betracht gezogen. Unsere Familie war, was die jüdischen Regeln betrifft, nie besonders strikt, ein solcher Schritt widersprach jedoch seinem Charakter und seinen Prinzipien. Er war ein stolzer Mann und Jude. Darüber hinaus glaubte er nicht, dass es irgendjemanden retten würde, wenn er oder sie ein Christ wurde. Das Verhalten und Vorbild unserer Eltern half uns, uns an die harten Lebensbedingungen im Lager anzupassen. Sie ließen in uns nie das Gefühl von Angst oder Jammer aufkommen. Es ist ihnen zu verdanken, dass wir vom ersten Tag an im Lager nie wirklich ein Gefühl von Angst hatten. Wir lebten im Gefüge unserer Familie, getragen durch die Liebe und Führung unserer Eltern. Sogar die scheußlichsten Erlebnisse, als z.B. einmal ein Hlinka-Gardist einen Mann demütigte indem er ihn anbrüllte „Nieder, hoch, nieder, hoch!“ und in anschließend erschoss, haben uns wegen der in unserer Familie vorherrschenden Atmosphäre von Glück und Harmonie nicht mit Furcht erfüllt. Es gab Zeiten mit ausreichend Nahrung, während es zu anderen Zeitpunkten nichts zu essen gab. Wir haben uns jedoch nie über unser Schicksal beklagt. Unsere Mutter hat immer alles sauber und ordentlich gehalten. Sie erledigte die Wäsche und unser kleiner Haushalt musste sauber sein. Im ganzen Lager gab es Wanzen und viele der Insassen haben sie als eine Tatsache einfach hingenommen. Ganz im Gegensatz zu unseren Eltern. Einmal pro Woche wurde jeder Gegenstand aus unserem Zimmer getragen und alles gereinigt. Wir haben die Betten und andere Möbel auseinander genommen, haben die Polsterung abgebürstet und haben auch das Stroh in den Matratzen erneuert. Nichts wurde wieder in den Raum zurück gestellt, es sei denn es war sauber und blank geputzt. Wenn wir sieben Tage in der Woche arbeiten mussten, erledigten wir das Putzen nach der Arbeit. Die strikten Sauberkeitsregeln in unserer Familie waren uns eine große Hilfe und haben uns vor allem vor Problemen und auch Krankheiten bewahrt. Das Lager von Sered war die akuteste Veränderung im Leben unserer Familie. Wir hatten ein großes Haus zurückgelassen, mit Dienst- und Kindermädchen, einem Auto. Das alles für ein winziges Zimmer. Es muss jedoch auch erwähnt werden, dass die Menschen um uns herum unter noch viel härteren Bedingungen leben mussten. Wir hatten Glück, waren wir doch unter den ersten, die ins Lager gekommen waren. Und unser Vater hatte eine führende Position inne. In anderen Baracken mussten sich zwei oder sogar drei Familie ein Zimmer teilen. Einzelpersonen lebten zu dutzenden in einem Raum, der kaum größer war als der unsere. Wir erhielten auch Hilfe von außen. Ein junger Nichtjude, Jožko Benialuk, der früher einmal für meinen Onkel in Nové Mesto gearbeitet hatte, kam gelegentlich zu einem Treffpunkt am Lagerzaun und brachte uns Lebensmittel und andere Dinge. Bis Ende 1943 ging das Leben im Lager in relativer Stabilität weiter. Bis August 1944 trug der Ertrag von den im Lager hergestellten Produkten nicht unerheblich zur slowakischen Wirtschaft bei, in einem viel größeren Ausmaß als ursprünglich für ein einziges Lager prognostiziert worden war. Das war zum Teil auf die Aufopferung der Insassen zurückzuführen. Sie waren Experten aus diversen Handwerksberufen und sie arbeiteten von früh bis spät. Neben der Arbeit standen auch kulturelle Veranstaltungen wie Gedichtelesungen und Fußballspiele auf der Agenda. Im Lager gab es sogar ein kleines Schwimmbad. Hie und da bekamen wir die Erlaubnis, darin zu schwimmen. Zwischen jungen Männern und Frauen bahnten sich diverse Liebesaffären an. Zu dieser Zeit, nach der Wende an der Ostfront und dem Vormarsch der Roten Armee, schöpften die Menschen wieder neue Hoffnung in ihren Herzen. Die BBC berichtete über die sich verschlechternde Situation in Deutschland und über den Rückzug der Wehrmacht. Wir sahen sogar amerikanische Flugzeuge auf ihrem Weg zur Bombardierung Deutschlands und alle glaubten zu fühlen, dass wir kurz vor einer grundlegenden Veränderung stünden. Die Juden, die außerhalb der Arbeitslager leben konnten, konnten einen recht vernünftigen Lebensunterhalt erzielen und sich so selbst versorgen. Die Slowakei durchlebte eine Periode der Ruhe. Wir blieben in dieser Zeit auch mit den Familienmitgliedern außerhalb des Lagers im Kontakt. Durch Bestechung der Wachen konnten Shmuel und ich das Lager zur Erholung oder für medizinische Behandlungen sogar kurzzeitig verlassen. In dieser Wirklichkeit war ein Spaziergang durch einen Wald oder das Betreten eines normalen Geschäfts ein Erlebnis außerhalb unserer Vorstellungswelt. Solch ein besonderes Vergnügen konnte es auch nur 1943 geben, einem Jahr relativer Ruhe. Als Gegenleistung für eine Dampfmaschine, die Onkel Arpad dem Lager spendiert hatte, konnte unsere Mutter einmal auf einen einwöchigen Urlaub gehen. Und natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass unser Vater für das Holz in der Tischlerei verantwortlich zeichnete. Das Nutzholz wurde per Zug am Bahnhof, der sich am Stadtrand befand, angeliefert. Er übernahm und entlud die Ware. Sie wurde dann ins Lager überstellt. Für diese Anlässe erhielt er eine Spezialgenehmigung, um das Lager verlassen zu dürfen. Das nahe gelegene Krankenhaus war eine wichtige Einrichtung. Vor dem Krieg hatte es ein jüdisches Krankenhaus in Bratislava gegeben. Die gesamten medizinischen Einrichtungen dieses Krankenhauses waren dann aber nach Sered verlegt worden. Während unserer Zeit im Lager von Sered musste sich Shmuel einmal in diesem Krankenhaus einer Blinddarmoperation unterziehen. Die Nähe dieses Hospitals rettete sein Leben. Jedes Kind über zwölf musste mindestens vier Stunden pro Tag arbeiten. Dennoch fanden wir genügend Zeit, um neue Freundschaften zu schließen und mit anderen Kindern zu spielen. Unsere Vorbilder waren eine Gruppe von gut organisierten jungen Erwachsenen, alles Mitglieder von zionistischen Jugendorganisationen. Für uns waren sie ein Muster an Solidarität und Zusammenhalt. Wir wussten von ihren Verbindungen zum Untergrund, welcher später konkrete Auswirkungen haben sollte: Bei der Befreiung des Lagers gingen viele aus dieser Gruppe zu den Partisanen und kämpften in ihren Reihen. In dieser ruhigen Zeit lebten ca. eintausend Menschen im Lager. Jeder Person wurde eine bestimmte Arbeit in einem der Betriebe zugeteilt – der Tischlerei, der Schmiede, der Wäscherei und der Küche. Zusätzlich gab es noch kleinere Werkstätten. In ihnen wurde genäht, wurden Körbe geflochten, Serviettenhalter hergestellt, Töpfereiwaren, Holzprodukte und anderes Kunsthandwerk produziert. Da unsere Mutter eine sehr gute Hand für das Verzieren von Dingen hatte, wurde ihr die Aufgabe übertragen, all die erwähnten Produkte zu ornamentieren. Heute betreibt meine Tochter Ronit eine Töpferwerkstätte. Sie entwirft, bemalt und verziert Töpfereiartikel. Wir glauben, dass sie dieses Talent von ihrer Großmutter gegerbt hat. Im Februar 1944 war Shmuel dreizehn Jahre alt. Unter großen Anstrengungen und trotz aller Schwierigkeiten schafften es unsere Eltern eine Feier für seine Bar-Mitzvah zu organisieren. Unser Klassenzimmer wurde für einen Tag zur Synagoge und dort las Shmuel auch den Haftarah[2]. Erfrischungen wurden von den Familienmitgliedern, die außerhalb des Lagers lebten, beigesteuert. Zu dieser Zeit wurde aber die Lebensbedingungen für Onkel Arpad und seine Familie untragbar. Sie gelangten zur Entscheidung, dass sie ins Lager ziehen und dort untertauchen würden. Dies war nur eine Übergangslösung. Nach sechs Monaten verließen sie das Lager wieder, kurz vor dem slowakischen Aufstand.
[1] Sered: KZ und
Arbeitslager in der Slowakei, ursprünglich ein Militärlager, im
Frühjahr 1942 zeitgleich mit den beginnenden Massendeportationen
nach Polen eröffnet. Bewacht von Angehörigen der Hlinka-Garde unter
der Führung von Imrich Vašina. 1942 verließen in 5 Transporten nach
Polen insgesamt 4500 Juden dieses Lager. [2] Haftarah, Haftaroth: Lesung aus den Prophetenbüchern = Newiim im Anschluss an die Torahlesung
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