Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Der HolocaustWieder in SeredIn Sered war beinahe die ganze Familie wieder vereint, wir vermissten jedoch Vater. Einige Zeit nach unserer Ankunft hörten wir, dass er es in Piešťany bis zum Bahnhof geschafft hatte und den Kugeln der Hlinka-Garden entkommen war. Er schloss sich den Partisanen an, wo er auch Onkel Rudi und Frau Quinters Mann traf. In der Zwischenzeit wurde Sered in ein Konzentrationslager umgewandelt. Die Deportationen setzten wieder ein und damit auch unser Überlebenskampf. Wir taten unser bestes, um uns an die neuen Umstände anzupassen. Shmuel und ich arbeiteten wieder in der Tischlerei. Mutter arbeitete ebenfalls, wir können uns jedoch nicht mehr daran erinnern, woraus ihre Arbeit genau bestand. In der Tischlerei hatte ich ein mir unvergessliches Erlebnis: Eines Tages, als ich gerade damit beschäftigt war, eines der dort produzierten Holzpferdchen zu spachteln und zu schleifen, kamen zwei Besucher in die Werkstadt – Adolf Eichmann und Alois Brunner. Brunner war für die Deportationen aus der Slowakei verantwortlich und Eichmann war der Leiter der deutschen Endlösungspolitik insgesamt – d.h. der Auslöschung der Juden. Sie standen beide neben mir und sahen mir bei der Arbeit zu. Ich glaube, sie haben mich sogar etwas gefragt. In Sered trafen wir viele Bekannte wieder. Eines Abends kam ein Transport von neuen Häftlingen im Lager an. Tante Elvira war dabei, zusammen mit ihrer Familie. Es war das letzte Mal, dass wir sie sahen. Am folgenden Tag wurde sie nach Polen deportiert. Es war uns unmöglich, sie zu retten. Da wir zu den ersten Insassen gehörten, die wieder in dieses Lager zurück gebracht wurden, war unser Status sozusagen der von dauerhaften Bewohnern. Dies war jedoch in Wirklichkeit eine Illusion, denn wann immer eine bestimmte Quote für einen Deportationszug erfüllt werden musste, wurde von den Verantwortlichen wahllos jeder für diesen Zweck bestimmt. Andererseits wurden zu diesem Zeitpunkt vorerst nur Neuankömmlinge deportiert und wir hatten das Glück, in Sered bleiben zu können. Die Ordnung im Lager, das sowohl von Deutschen wie auch von Slowaken geführt wurde, hatte sich völlig verändert. Appelle der zu Deportierenden waren an der Tagesordnung. Die Fluchtversuche häuften sich zunehmend, und daher wurden harte Strafen eingeführt. Sogar diejenigen, die versuchten, sich heimlich von einer zur nächsten Baracke zu schmuggeln, wurden erschossen und getötet. Einmal kamen zehn Männer ins Lager, um Waren zu liefern. Einer von ihnen flüchtete und kehrte nicht zurück. Die neun anderen wurden gezwungen, sich nackt vor dem Gebäude der Lagerleitung aufzustellen. Dort wurden sie gefoltert, um von ihnen Informationen über den Verbleib des Geflüchteten herauszupressen. Sie sagten nichts. In der Folge wurde um Mitternacht das gesamte Lager zusammengetrommelt und alle mussten in weiten Kreisen im Lager umherlaufen. Wir vier rannten, wie alle anderen. Die Deutschen standen auf der Seite mit Peitschen in ihren Händen und schlugen auf die Laufenden ein. Menschen fielen und brachen zusammen. Sie peinigten uns drei oder vier Stunden lang. Zu unserem großen Glück zog uns der Chef der Wäscherei, ein Bekannter unserer Mutter, aus der Reihe der Laufenden und versteckte uns bis zum Morgen in der Wäscherei. Die Appelle fanden immer wieder statt. Jedes Mal überlegten wir uns ganz genau, wie wir uns verhalten sollten. Wie sollten wir stehen? Wer in der ersten Reihe? Sollten wir uns hintereinander aufstellen? Unser einziges Ziel war es, der Deportation zu entkommen. Die Selektionen für die Deportationen waren jedoch völlig willkürlich. Der Kommandant brüllte zum Beispiel: „Jede vierte Reihe – los geht’s!“ Einmal schafften wir es, der Deportation zu entkommen, in dem wir das Durcheinander beim Appell ausnützten. Shmuels Einfallsreichtum rettete uns. Es war bei Tagesanbruch. Wir rannten einfach aus der Reihe der zu Deportierenden auf die andere Seite des Appellplatzes zu der Gruppe der Juden, die im Lager bleiben sollten. Wir behaupteten einfach, dass man uns dort hin geschickt hätte. Zu dieser Zeit wurde die Jagt auf die Juden der Slowakei weiter intensiviert. Die Zahl der Juden nahm daher immer mehr ab, die Quoten für die Deportationen blieben aber gleich hoch. Das Ziel war klar: Wir alle waren für die Vertreibung bestimmt. Dann kam einer der traurigsten Tage. Wir vier – Großmutter, Mutter, Shmuel und ich – standen zum Appell. Alois Brunner hatte das Kommando und er führte auch selbst die Selektion durch. Shmuel und ich waren beide blond. Mutter, sie war eine groß gewachsene und schöne Frau mit einer Stülpnase, war ebenfalls blond. Brunner konnte es anscheinend nicht fassen, dass es Juden mit solch arischem Äußeren geben konnte. Er ging auf uns zu und stelle fest: „Ihr seid Mischlinge, nicht? Shmuel behielt die Nerven und antwortete auf Deutsch: „Das ist richtig, und wir haben daher auch keine Ahnung, warum man uns hier schon so lange festhält.“ Brunner befahl daraufhin unsere Überstellung zur Gruppe der gemischten Familien. Wir ahnten, dass Großmutter die Ereignisse richtig gedeutet hatte, denn sie schlug vor, dass Mutter bei ihren Kindern bleiben solle, und dass sie zurückbleiben würde. Das war das letzte Mal, dass wir sie sahen. Wäre sie nämlich als Teil unserer Familie erkannt worden, wir wären alle in den sicheren Tod gegangen. Sie war dreiundsechzig Jahre alt, als sie deportiert wurde, am Zenit ihrer Weisheit und Kraft. Unsere Trennung von ihr war ein traumatisches Ereignis. Dieser schreckliche Moment ist zeitlebens in unserer Erinnerung eingebrannt geblieben. Es ist uns auf der rationalen Ebene bewusst, dass dies in dem Moment der einzige vernünftige Weg war. Gefühlsmäßig war es jedoch ein äußerst schockierendes Erlebnis. Der tragische Ausgang dieses Ereignisses verfolgte Mutter bis zu ihrem Lebensende. Wir wurden in ein Gebäude nahe der Speisebaracke gebracht. In diesem waren alle gemischtrassigen Familien untergebracht. Einige Bewohner dieses Blocks, die uns von früher kannten, begannen zu schimpfen: „Im Gegensatz zu euch sind wir alle aus gemischt jüdisch-arischen Familien. Eure Falschheit wird uns noch alle ins Verderben stürzen.“ Wir sagten nur: „Wir sind nicht hier, um euch zu schaden!“ Auf diese Art und Weise entkamen wir dieser einen Deportation. Wir richteten uns also im Mischlingsgebäude ein und gaben vor, dass unser nicht-jüdischer Vater bald zurückkehren würde. Wir behaupteten, dass er uns abholen würde und uns zu sich nach Hause holen würde. Doch insgeheim fragten wir uns, warum er immer noch nicht gekommen war. Shmuel: Ich wurde zur Kommandantur gerufen. Dort sage man mir: „Wir geben dir vier oder fünf Tage, deinen Vater ins Lager zu bringen, sodass er dich befreien kann. Solltest du ohne deinen Vater zurückkommen, heißt das, dass du gelogen hast.“ Irgendjemand – ich weiß nicht, wer die Person war – arrangierte für mich ein Treffen mit Herrn Winter, einem wohlhabenden Juden, Gründer und Besitzer der örtlichen Badeanstalt, der immer noch in Piešťany lebte. Zwei Tage lang blieb ich in seinem Haus. Für mich als Buben, der gerade der Hölle auf Erden entstiegen war, erschien sein Haus wie eine herrschaftliche Villa. Dort traf ich schließlich auch jemanden, der bereit war mir zu helfen. Nach ausführlichen Beratungen beschlossen wir folgendes: Ich würde ins Lager zurückkehren und dort berichten, dass ich meinen Vater nicht hätte finden können. Dass ich andererseits einige Dokumente gefunden hätte, die den christlichen Glauben meines Vaters bewiesen. Diese Dokumente würde ich den Verantwortlichen im Lager übergeben. Am vierten Tag gaben mir Herr Winter und diese andere Person – seine Identität blieb mir unbekannt – unter anderen Papieren eine Bestätigung, die besagte, dass Herr Artur Fürst ein Christ war. Bei meiner Rückkehr ins Lager – ich glaube es war in den Abendstunden – wurde ich durch einen Korridor geführt, in dem vier Leichen von kurz zuvor getöteten Menschen lagen. Ich betrat Brunners Büro und sagte ihm, dass ich meinen Vater nicht hätte finden können, da er nicht zu Hause gewesen sei. Nichtsdestoweniger, so sagte ich, hätte ich diese Dokumente, die ich hier in meinen Händen hielt, gefunden. Ohne ein Wort nahm er die Papiere. Ein paar andere Männer, die zu diesem Zeitpunkt in Brunners Büro anwesend waren, meinten nur, dass sie sehr hofften, dass diese Papiere auch echt wären; sonst hätte ich wirklich ernste Probleme. Als ich Brunners Büro wieder verließ, lag nur noch eine der vier Leichen am Boden des Korridors. Ich musste an diesem wohl nur Minuten zuvor getöteten Menschen vorbei. Es war fürchterlich für mich. Ich hatte schon zuvor im Lager Tötungen mitbekommen, hatte jedoch noch nie so nahe einen Ermordeten aus der Nähe gesehen. Fürchterliche Angst überkam mich, nicht nur wegen der Leiche sondern auch wegen unserer eigenen unsicheren Zukunft. Da die Übergabe meiner Papiere keinerlei Reaktion hervorgerufen hatte, verstärkte das nur meine Sorge um unser Schicksal. Sollten wir trotz alledem beim nächsten Transport dabei sein? In der Zwischenzeit kamen mit jedem neuen Tag neue Gefangene aus der ganzen Slowakei im Lager an. Eines Tages kam dann die Nachricht, dass unser Vater gefasst worden war und nach Sered gebracht werden sollte. Bis dahin hatten wir bereits alle Hoffnung aufgegeben, ihn je wieder lebend zu sehen. Wir waren sicher, dass er erschossen worden war, als er versucht hatte, den Hlinka-Garden in Piešťany zu entkommen. Deshalb waren wir überglücklich und überrascht, als wir hörten, dass er am Leben sei und nach Sered kommen sollte. Er war zusammen mit Onkel Rudi bei einer Einheit der Partisanen gewesen und gefangen genommen worden. Wir fanden schnell heraus, in welcher Baracke er untergebracht worden war, wussten aber eigentlich nicht so recht, wie wir uns taktisch am besten verhalten sollten. Sobald nämlich seine Identität ans Tageslicht käme, würde auch unsere Lügengeschichte vom nicht-jüdischen Vater in sich zusammen brechen, mit allen Konsequenzen. Andererseits bedeutete sein Aufenthalt in dieser Baracke möglicherweise auch, dass er am folgenden Tag deportiert werden würde. Über geheime Kanäle konnten wir ihm folgende Nachricht übermitteln: Als erstes solle er seinen Namen ändern; zweitens würden wir ihn bei Einbruch der Nacht aus seiner Baracke holen und ihn dann verstecken. Wir glaubten, dass gemischt arisch-jüdische Familien von den Deportationen ausgenommen wären, und dass auch der Faktor Zeit für uns von Vorteil wäre. Vater hat unsere Nachricht erhalten. Da er keine Ausweispapiere bei sich hatte, war es für ihn auch kein Problem, sich unter dem Namen Oizer registrieren zu lassen. Wir entschieden, ihn in der Tischlerei zu verstecken, in einer verborgenen Ecke, wo ihn sicher niemand finden würde. Wir kannten die Räumlichkeiten ja in- und auswendig. Unser erster Versuch, ihn aus der Baracke zu holen, schlug jedoch fehl. Erst in der darauf folgenden Nacht schmuggelten wir ihn erfolgreich in die Tischlerei. Eine weitere Person, mit der wir unser Geheimnis teilten, half uns dabei. Er versteckte sich in einem dunklen dreieckigen Hohlraum zwischen zwei Treppenaufgängen. Onkel Rudi kam mit seiner Freundin und ihrer Familie ins Lager. Wir schlugen ihm vor, dass er seine Baracke verlassen und sich zusammen mit unserem Vater verstecken sollte. Er weigerte sich jedoch, denn er konnte seine Freundin nicht alleine zurück zu lassen. Das war das letzte Mal, dass wir ihn sahen. Onkel Rudi, seine Freundin und ihr Mann wurden alle in den Tod geschickt. Vater blieb einige Tage in der Tischlerei, die Bedingungen in seinem Versteck waren jedoch unerträglich. In dem Hohlraum war es stockdunkel und er konnte sich kaum darin bewegen. Aber wir konnten ihm etwas Essen zukommen lassen. Einige Zeit später versteckte sich mein Vater an einem anderen Ort. Eines Nachts jedoch erschien er plötzlich in unserem Raum. Mutter und er beschlossen, dass wir auch weiterhin vorgeben würden, dass wir nicht der gleichen Familie angehörten. Das hieß natürlich, dass man uns in der Öffentlichkeit nicht zusammen sehen durfte. Das größte Problem dabei war aber, dass unser Vater nicht nur im alten Lager von Sered eine bekannte Persönlichkeit war, sondern auch in der gesamten Slowakei. Daher dauerte es nicht lange, bis unsere Eltern zur Lagerleitung gebracht wurden. Da erkannten wir, dass nun der schlimmste aller Fälle eintreten könnte. Uns war vollkommen klar, und wir hatten es ja bereits miterlebt, wie groß das Leiden, dem die Juden ausgesetzt waren, sein konnte. Was passierte nun tatsächlich? Mutter und Vater wurden Brunner vorgeführt. Er hieß ihnen, entweder ihre Beziehung weiterhin zu verleugnen, oder gleich zuzugeben, Ehemann und -frau zu sein. Letzteres bedeutete Deportation am folgenden Tag. Sie erwiderten: „Ja, wir sind miteinander verheiratet!“ Wir wurden alle vier sofort in die Baracken mit den Juden überstellt. Warum hatte Brunner sie nicht auf der Stelle töten lassen? Rückblickend können wir nur vermuten, dass er sich des Gedankens nicht erwehren konnte, dass er wegen unseres arischen Aussehens vielleicht einen Fehler machte. Wenn jemand daran gedacht hätte, ein Brüderpaar, das ein Musterbeispiel für die reine arisch-nordische Rasse in einem Nazi-Propagandafilm hätte sein können, zu fotografieren, man hätte wohl uns beide ausgewählt. Wir waren groß gewachsen, sehr ähnlich im Aussehen, gut gebaut, mit blauen Augen und kurz geschnittenen blonden Haaren. Vielleicht hatte auch Mutters Schönheit einen Eindruck auf Brunner gemacht und ihn zögern lassen. Natürlich wusste er nur zu gut über die Bestimmung der Transporte Bescheid. Er versuchte nicht uns zu retten, aber andererseits war er wohl nicht fähig, uns gleich vor Ort zu töten. Unsere Eltern wussten, dass wir in den nächsten Tagen deportiert würden. Sie scheuten keine Mühe, uns auf die fürchterlichen Qualen, die uns erwarten sollten, irgendwie vorzubereiten. Vater flehte, er befahl: „ Komme was wolle, wir müssen alle Not überwinden. Wir müssen einfach überleben! Wir müssen!“ Wir brannten uns diese Worte unseres Vaters tief ins Herz und Gedächtnis ein, sie leiteten uns durch alle Zeiten und Situationen. In unseren Gesprächen über die Zukunft vereinbarten wir sogar einen Treffpunkt für die Familie, sollten wir von einender getrennt werden. Wir bestimmten das Haus der nicht-jüdischen Familie Formánek in der Šulekovástraße 8 in Bratislava. Einige Tage später fand ein Appell statt. Wir waren diesmal bei den Juden, die für die Deportation selektiert wurden. Kein Versuch sich irgendwie vom Transport zu drücken. Es war uns mehr als klar, dass bereits der Versuch unsere sofortige Exekution zur Folge gehabt hätte. Unsere Eltern hatten auch erfahren, dass ein Jude mit Namen Kohn mit den Deutschen kollaborierte, und dass er es gewesen war, der sie denunziert hatte. Kohn überlebte den Krieg und wurde wegen Kollaboration mit den Nazis angeklagt. Trotz seiner verwerflichen Taten hat unser Vater nicht gegen ihn ausgesagt.
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