Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Kindheit und KriegBratislava/PreßburgIm Herbst 1938, als Shmuel gerade in die zweite Klasse ging, marschierten die Deutschen in Wien ein. Das war der Wendepunkt in unserem Leben. Die Verfolgung traf uns Kinder völlig überraschend und plötzlich. Der Teil von Preßburg westlich der Donau, in dem wir lebten, sollte an Österreich bzw. die Ostmark angeschlossen werden. Alle jene, die in der Tschechoslowakei bleiben wollten, mussten über die neue Grenze auf tschechoslowakisches Territorium ziehen. Sie hatten zwei Wochen Zeit, ihre sieben Sachen zu packen und, was immer sie tragen konnten, mitzunehmen. Zu dieser kritischen Zeit war unser Vater jedoch nicht zu Hause. Er war zum Heer der Tschechoslowakei eingezogen worden. So musste meine Mutter die gesamte Last der Übersiedlung des Hauses und des Warenlagers, wie natürlich der gesamten Familie, tragen. Das Martyrium unserer Familie hatte begonnen. Nach seiner Rückkehr aus der Armee schaffte es unser Vater, neue Geschäftsräume für die Firma zu finden. Schwer beladene Kolonnen von Karren und Wägen, die Freunde unseren Eltern zur Verfügung stellten, überquerten die Donaubrücke und transportierten das Holz und die Ausrüstung an das andere Ende der Stadt. Wir übersiedelten in ein relativ großes Haus in Biely Kríž, einem Villenviertel am Stadtrand von Pressburg. Dieser Teil der Stadt wurde auch Dynamitka genannt, ein Name, der von dem Firmennamen „Dynamit Nobel“ herrührte. In diesem Teil der Stadt waren einige Firmen mit deutschen Namen, wie z.B. Siemens, Stollwerck und dgl., ansässig. Vater und Onkel Laci führten hier also ihre Firma weiter. Was uns Kinder betraf, gingen wir nun in diesem Stadtteil in die Grundschule. Während Smuel mit der zweiten Klasse seine Schullaufbahn fortsetzte, begann ich mit der ersten. Außer dem Wechsel von Wohnung und Schule, nahmen wir noch keine sehr gravierenden Veränderungen in unserem Leben wahr. Das Jahr 1940 erschien uns nicht als sehr außergewöhnlich. Wir mussten uns an die neue Umgebung gewöhnen, eine neue Schule und neue Freunde, aber wir waren mit keinen speziellen Problemen oder anti-semitischen Tendenzen konfrontiert. Die Situation blieb so bis Anfang 1941. Das erste Anzeichen der wirklichen Probleme war das Tragen des gelben Sternes auf der Kleidung, das allen Juden per Gesetz vorgeschrieben wurde. Aus irgendeinem Grund waren wir Kinder von dieser Vorschrift ausgenommen. In der Schule trugen wir den gelben Aufnäher nicht. Wir wussten auch nichts über die wachsenden Feindseligkeiten gegenüber Juden. Zu dieser Zeit herrschten in der Slowakei immer noch die demokratischen Traditionen der Zeit vor 1938 vor. Doch obwohl die slowakischen Juden immer noch die diversen Kurorte als Urlauber und Kurgäste bevölkerten und die bevorstehende Katastrophe für die Juden noch nicht direkt fühlbar war, wir waren bereits Flüchtlinge. Die erste schockierende Neuerung für uns Kinder war dann eine Verordnung, die besagte, dass jüdische Kinder öffentliche Schulen nicht mehr besuchen dürfen. Von diesem Tag an mussten wir zwei verschiedene Straßenbahnlinien nehmen, um zur jüdischen Schule zu gelangen. In dieser Schule wurden die jüdischen Kinder aus der ganzen Stadt zusammengefasst. Und das bedeutete auch, dass wir den gelben Stern tragen mussten. Auch in der jüdischen Schule fühlten wir nun, dass etwas Schlimmes und Ungewöhnliches um uns herum passierte. Das ganze war die Konsequenz der politischen Ereignisse: des Zusammenbruchs der Tschechoslowakei nach der Besetzung Böhmens und Mährens durch das Deutsche Reich, sowie die Erklärung der Slowakei zu einem „unabhängigen“ Staat mit einem faschistischen Regime, das eng mit Nazideutschland kollaborierte. Der nächste Schritt, der von den Slowaken gegen die Juden unternommen wurde, war die Konfiszierung von Schmuck und anderen Wertsachen. Auch der Besitz von Radioapparaten wurde für Juden verboten. Wir wissen nicht mehr, wie unser Vater das Problem der Wertsachen löste, aber wir können uns sehr genau daran erinnern, wie er uns Kindern das Radio gab und uns sagte, wir sollten damit spielen, es auseinander nehmen und es sogar anzünden. Das war für uns natürlich ein Riesenspaß. Vor allem das Innenleben des Radiogerätes faszinierte uns besonders. Schreckliche Nachrichten aus Wien über das Schicksal der Juden dort erreichten auch uns jetzt. Gerüchte machten die Runde, dass „Bäche von jüdischem Blut sich durch die Straßen von Wien ergossen“, dass die Juden gedemütigt und geschlagen würden, und dass sie gezwungen würden, die Straßen der Stadt zu säubern. Dennoch weigerten sich die Juden in Pressburg, diesen Gerüchten Glauben zu schenken. Sie waren immer noch überzeugt davon, dass in ihrer Stadt solche Gräueltaten nicht passieren könnten, denn „da drüben ist Deutschland und hier bei uns ist die unabhängige Slowakei.“ Bei uns zu Hause mangelte es uns noch an nichts. Es wurde aber ein weiteres Gesetz erlassen: alle Firmen und Immobilien bzw. Grund und Boden im Besitz von Juden mussten an Nichtjuden übergeben werden. Plötzlich tauchte bei uns ein nichtjüdischer „Arisierer“ namens Štefanovič auf. Er teilte meinem Vater kurz und bündig mit: „Von nun an leite ich die Firma und du arbeitest für mich.“ Für meinen Vater war das ein schwerer Schlag, der ihn aus heiterem Himmel traf. Er erlitt einen Schlaganfall, teilweise Lähmungserscheinungen waren die Folge. Sein Zustand wurde in der Familie natürlich mit große Sorge gesehen. Zum Glück war es, wie sich mit der Zeit herausstellen sollte, nur ein leichter Schlaganfall, und er erholte sich fast vollkommen davon; außer einer kleinen Augenschädigung.
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