Die Brüder Fürst    BRATIA FÜRST

 

Kindheit und Krieg

Der Slowakische Aufstand

Im August 1944 wurde für die Menschen im Lager immer mehr spürbar, dass etwas in der Luft lag. Gerüchte über einen von der Kommunistischen Partei und „Progressiven Kräften“ geführten Aufstand gegen das faschistische Regime gingen um.[1] Da die Rote Armee bereits in der Nähe der slowakischen Ostgrenzen stand, bestand auch die Hoffnung, dass die Russen, eine beginnende Erhebung unterstützen und fördern würden.

Rückblickend kann man sagen, dass dieser Aufstand das moralische Ansehen der Slowaken gewahrt hat. Trotz der Kollaboration mit den Deutschen hatten sie die Seiten gewechselt und sich als Rebellen gegen das faschistische Regime präsentiert. Am Ende des Krieges hat die Slowakei dann weitgehend von diesem Aufstand profitiert.

Eines Morgens sagte Vater zu jedem einzelnen von uns: „Um elf Uhr gehst du zum Lagerzaun, kletterst darüber und dann gehst du nach Sered zur Familie.“ Wir bekamen die Adresse eines uns bekannten Holzhändlers und dies sollte der Treffpunkt für die ganze Familie sein. Es wurde uns eingeschärft, langsam zu gehen und keine auffälligen Bewegungen zu machen. Shmuel und ich überwanden der Zaun. Voll Angst gingen wir dann in angemessenem Abstand voneinander weiter. Als wir beim Haus des Holzhändlers ankamen, hießen er und seine Familie uns willkommen. Unsere Eltern kamen am Abend an. Plötzlich stürmte ein bewaffneter Mann ins Haus. Wir konnten nicht fassen, was da gerade vor sich ging. Später erfuhren wir, dass er ein französischer Partisan war und vor den Deutschen auf der Flucht war.

Am folgenden Tag begann der slowakische Aufstand.

Bevor wir mit unserer Familiengeschichte fortfahren, möchten wir ein paar Dinge zum Aufstand ausführen.

Die Mehrheit der slowakischen Bevölkerung war katholisch, es existierte jedoch auch eine beachtliche evangelische Minderheit. Diese war nicht so extrem nationalistisch eingestellt wie die katholische Mehrheit und auch ihr Antisemitismus war geringer ausgeprägt.

Was die Alliierten Truppen betrifft, so begünstigten und unterstützten diese Widerstands- und Untergrundgruppen in allen Ländern unter faschistischer Herrschaft. Dies war auch in der Slowakei der Fall. Innerhalb der Widerstandsgruppen übernahmen die Kommunisten den Löwenanteil der Aufbauarbeit. Die Kommunistische Partei hatte in der Tschechoslowakei zusammen mit den Sozialdemokraten schon seit den frühen 1920er-Jahren bestanden. Nach und nach wuchsen die meisten Mitglieder dieser politischen Gruppierungen ins System hinein, während einige wenige dagegen opponierten. Es entwickelte sich eine neue und authentische Führung. Das waren genau diejenigen Personen, die dann den Widerstand gegen die mit den Deutschen kollaborierende Regierung anführen sollten.

Zu einem bestimmten Stadium des Aufstandes unterstützen auch die Russen diesen, primär durch Führungsoffiziere auf dem Gebiet der Ausbildung und Bewaffnung. Es kamen jedoch faktisch keine russischen Offiziere oder Kampfsoldaten.

Eine Tschechoslowakische Einheit nahm andererseits auf Seiten der Roten Armee aktiv am Krieg teil. An der Westfront kämpfte eine tschechoslowakische Luftstaffel innerhalb der britischen Royal Air Force.

1944 war die deutsche Armee bereits auf dem Rückzug. Frankreich war befreit, eben so die größten Teile von Westeuropa, wie auch Teile von Ungarn. Die Alliierten machten gute Fortschritte auf allen Frontabschnitten. Im Großen und Ganzen bedeutete die allgemeine politische und militärische Lage wohl eine gute Voraussetzung für einen Aufstand in der Slowakei.

Zwei Tage nach Beginn der Erhebung jedoch stürmten die Deutschen die Slowakei und erstickten diesen Aufstand.

Zu dieser Zeit wurde das Lager von Sered aufgelöst. Die Mitglieder der Hlinka-Garde flohen und die Juden des Lagers zerstreuten sich in alle Winde.

Unsere Eltern entschlossen sich, Sered zu verlassen und nach Piešťany zu gehen. Dort lebten immer noch Großmutter und Onkel Arpad. Vater suchte einen PKW, aber das einzige verfügbare Auto war ein Taxi. Als wir also alle im Taxi auf unserem Weg nach Piešťany saßen, trafen wir auf deutsche Truppen, die in die entgegengesetzte Richtung fuhren. Da wir uns der Gefahr sehr bewusst waren, fürchteten wir das Schlimmste: dass wir von den blutrünstigen Deutschen gefasst würden.


[1] Der Slowakische Nationalaufstand (Slovenské národné povstanie, SNP) gegen das dem nationalsozialistischen Deutschland dienende slowakische Regime von Josef Tiso begann am 29. August 1944. Das Zentrum des slowakischen Nationalaufstandes gegen die Nationalsozialisten war Banská Bystrica (dt. Neusohl).
Der Aufstand ging von der slowakischen Armee aus, die aus etwa 60.000 Mann bestand und von etwa 18.000 Partisanen unterstützt wurde. Edvard Beneš, der selbsternannte Präsident der slowakischen Exilregierung in London, hatte die Revolte 1943 in Moskau vorbereitet. Als die Niederlage Deutschlands im Osten absehbar war, unterzeichnete er am 12. Dezember 1943 in Moskau mit Stalin einen tschechoslowakisch-sowjetischen Beistandsvertrag, der auch eine enge Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit festlegte. Die Sowjetunion wurde damit zu einer Garantiemacht des wiederherzustellenden tschechoslowakischen Staates. Bei diesem Besuch wurde auch die Vertreibung der Sudeten- und Karpatendeutschen vereinbart sowie die teilweise Vertreibung und Enteignung der 720.000 Ungarn in der Südslowakei.
Die entscheidende Offensive gegen die Aufständischen begann am 17. Oktober von Ungarn aus. Am 27. Oktober 1944 fiel Banská Bystrica, die Aufständischen wurden inhaftiert, dessertierten oder liefen zu den Partisanen über, die den Widerstand bis zum Kriegsende fortführten. Bei der Verfolgung der Aufständischen kamen neben dem deutschen Militär auch die SS-Truppe Heimatschutz, welche sich aus bewaffneten Einheiten slowakischer Deutscher rekrutierte und die Hlinka-Gardisten zum Einsatz. Dörfer wie Nemecká, Kalište und Telgárt wurden wegen Beteiligung und Unterstützung des Aufstandes niedergebrannt, die Männer in Konzentrationslager gebracht oder gleich auf der Stelle erschossen.
Der Aufstand mit seinen etwa 20.000 Opfern wurde später von der kommunistischen Geschichtsschreibung glorifiziert, wird heute jedoch allmählich einer ausgewogeneren Betrachtung unterzogen. Unter anderem werden auch Morde und Grausamkeiten an der karpatendeutschen Bevölkerung, z.B. in Sklené (Glaserhau), Banská Bystrica (Neusohl), Banská Štiavnica (Schemnitz), Veľké Pole (Hochwies), Ružomberok (Rosenberg), Nitrianske Pravno (Deutschproben) und Handlová (Krickerhau) berücksichtigt.