Die Brüder Fürst    BRATIA FÜRST

 

Kindheit und Familie

Die Familie Blum

Großvater Blums Name war Isidor (Israel), und Großmutters Name war Janette. Beide wurden im neunzehnten Jahrhundert in Vrbové geboren und dort lebten sie ihr ganzes Leben. Sie hatten ein riesiges Haus mit einem großen Garten und einem Springbrunnen. Hühner und Gänse liefen im Garten umher, und wir Kinder liebten es, dort zu sein.

Ihren Lebensunterhalt bestritten sie mit einem Stickereigeschäft, in dem sie bunte, traditionelle Blusen und Halstücher verkauften.

Großvater war einer der wenigen Exporteure von Stickereiwaren aus Vrbové. Er war wohl der einzige, der damals Stickereien mit traditionellen slowakischen Motiven exportierte. In der Zwischenkriegszeit war solch ein Betrieb recht ungewöhnlich.

Er war ein großer Philanthrop und seine Familie war recht wohlhabend. Zu seiner Zeit war es üblich, Juden bei ihrer Ankunft in einem Dorf wie auch bei ihrer Abreise die entsprechende Gastfreundlichkeit zukommen zu lassen. Großvater suchte immer nach einer Möglichkeit, arme Menschen zu unterstützen.

Großmutter Janette war die dominante Person in der Familie.

Sie hatten fünf Kinder. Der Erstgeborene war Miši, der später in die USA emigrierte. Rudi, der zweite,  lebte in der Slowakei und zwischendurch auch einmal in Ägypten. Die nächsten waren die Zwillinge Lili und Anička. Margit, unsere Mutter, war die fünfte. Die Geschichte dieser fünf Geschwister wird weiter unten noch genauer ausgeführt werden. Die meisten Einwohner von Vrbové waren Juden. In dem Dorf gab es eine prachtvolle Synagoge mit einem berühmten Rabbiner – Rabbi Reich, von dem bekannt ist, dass er nach Israel auswanderte und in Jerusalem lebte. Die Synagoge war der zentrale Anlaufpunkt der jüdischen Gemeinde von Vrbové. Großvater war ein frommer Mann. Jeden Morgen um vier Uhr in der früh ging er in die Synagoge um die heiligen Schriften zu lesen und zu studieren. Wir Kinder kamen oft nach Vrbové und jeden Sabbat sowie Feiertag gingen wir mit Großvater in die Synagoge. Wir erinnern uns gerne an diese vertrauten wie aufregenden Momente.

Die Familie Blum vereinte in sich jüdische Traditionen mit einem modernen Leben. Großvater und Großmutter waren sehr aufgeschlossen und ließen ihren Kindern eine breit gefächerte Ausbildung angedeihen.

Im Winter 1939 rutschte Großvater auf der eisigen Straße aus und brach sich das Bein auf dem Weg in die Synagoge. Ans Bett gefesselt entwickelte er eine tödliche Lungenentzündung. In meiner Familie wurde später geäußert, dass er wohl Glück gehabt hätte, vor dem Holocaust gestorben zu sein, dass er die Greuel dieser Zeit nicht mehr erleben hat müssen.

Der Friedhof von Vrbové, auf dem er begraben ist, hat die Zeit relativ gut überdauert. Fast unsere gesamte Familie hat sein Grab schon einmal besucht.

Heute leben jedoch fast keine Juden mehr in Vrbové. Bis vor ein paar Jahren lebte noch der Zahnarzt Dr. Braun dort. Als wir ihn trafen, erinnerte er sich noch gut an unsere Eltern. Wir trafen auch unser Kindermädchen, die uns betreute, als wir kleine Kinder waren. Auch sie erinnerte sich an uns, erkannte Naftali sogar nach über 50 Jahren wieder. …

Nichts ist vom Haus unserer Großeltern übrig. Heute steht auf dem Grundstück eine Wohnsiedlung, die gesamte Gegend ist völlig verändert. Eigentlich sind die Gräber unserer Familie die einzigen Spuren unserer Familie in Vrbové. Auch die Synagoge ist lediglich ein Ort der Erinnerung an die ehemals ansässige jüdische Gemeinde hier. Über die Jahre hinweg wurde sie auch als Lagerhalle für diverse Güter benützt.

Als Österreich 1938 dem Deutschen Reich angeschlossen wurde, wurden auch die Streitkräfte der Tschechoslowakei mobilisiert. Unser Vater wurde eingezogen und wir übersiedelten mit unserer Mutter nach Vrbové um. Unsere Familienbande wurden dadurch intensiver als je zuvor und wir beiden Kinder wurden von allen verwöhnt, vor allem von Onkel Miši, einem humorvollen und lustigen Mann, der sehr gerne mit uns spielte.

Onkel Miši war Besitzer eines kleinen Betriebes für Kosmetika, der sich im hinteren Teil des Hauses befand. Er heiratete Lili Werner. 1938 emigrierten sie gemeinsam in die USA. Bevor sie die Tschechoslowakei verließen, kamen sie noch bei uns zu einem Abschiedsbesuch vorbei. Wir begleiteten sie zum Hafen von Bratislava, ihrem Abreisepunkt. In New York hat dann Tante Lili ihre Tochter Janette - nach Großmutter Blum benannt - zur Welt gebracht. Janette heiratete Neil Olshan, mit dem sie drei Söhne hatte. Tante Lili starb nach längerer Krankheit 1981. Onkel Miši verstarb 1992 im gesegneten Alter von zweiundneunzig.

Aus unserer Generation der Familie Blum lebt außer Janette, die heute noch in den USA lebt, und uns niemand mehr. In der Vergangenheit war die Familie Blum einmal eine große Familie gewesen, heute jedoch lebt nicht einmal der Name mehr fort.

Rudi war der jüngere Bruder von Miši. Er soll der gebildetste der Familie gewesen sein. 1935 schickte in die „Generali Versicherungsgesellschaft“ nach Ägypten. Er hatte den Auftrag, in Kairo eine Zweigstelle für die Gesellschaft aufzubauen. In Vrbové ließ er seine große Liebe zurück. Sie sollte dann einen Tierarzt aus der Region heiraten. Als Onkel Rudi noch in Vrbové war, nahm er mich öfters zu ihrem Elternhaus mit, „die Kühe und Pferde zu sehen“. In Wirklichkeit war ich natürlich ein ausgezeichneter Vorwand für seine Besuche bei ihr.

Onkel Rudi wollte jedoch ohne sie nicht leben und aus diesem Grund kehrte er 1939 nach Vrbové zurück – zu unserer großen Sorge. Bis 1944 hielt er im Dorf und der Umgebung aus. In diesem Jahr schloss er sich dann den Partisanen in den Bergen an, zusammen mit der Familie seiner Liebsten. (Unser Vater war damals ebenfalls ein Partisan in diesem Gebiet.) Schließlich wurden sie beide gefangen genommen und nach Sered ins Lager gebracht. Da wir zu dieser Zeit bereits erfahrene „Veteranen“ in diesem Lager waren, versuchten wir ihn aus der Baracke der zu Deportierenden zu bekommen. Er weigerte sich aber strikte, die Baracke zu verlassen. Bis heute werden wir das Gefühl nicht los, dass wir ihn vielleicht hätten retten können. Er war gerade 41 Jahre alt, als er in eines der Todescamps deportiert wurde. Wir wissen bis heute nicht genau, wo er starb.

Der Sohn seiner Freundin, Dodo, absolvierte später in der Schweiz die Hotelfachschule. Nach dem Krieg machte ihn Naftali in Las Vegas ausfindig. Sie korrespondieren bis heute miteinander. Dodo ist heute über siebzig Jahre alt.

Lili und Anička Blum waren eineiige Zwillinge. Wie alle Kinder der Familie Blum gingen sie in Vrbové zur Schule. Als sie herangewachsen waren, hielt ein Mann Namens Arpad Weis um Tante Lilis Hand an. Arpad Weis war ebenfalls in Vrbové geboren und ein wohlhabender Händler für landwirtschaftliche Maschinen. Sie gab ihm jedoch einen Korb. Daher wurde Lilis Zwillingsschwester Anička Ziel seines Werbens. Das Ergebnis war die Heirat der beiden. Sie lebten sehr glücklich zusammen. Tante Anička war jedoch eine sehr fragile und kränkliche Frau. Am Tag als meine Mutter sie am Krankenbett besuchte, starb Anička in den Armen der jüngeren Schwester. Sie wurde in Piešťany zur letzten Ruhe gebettet.

Onkel Arpad war für uns eine große Hilfe während unserer Internierung im Lager von Sered. Er schaffte es außerhalb des Lagers zu bleiben und sich frei zu bewegen. Er unterstützte uns finanziell oder durch Bestechungen der Lagerleitung, was es meiner Mutter ermöglichte, das Lager hie und da zu verlassen. Arpad blieb während der gesamten Kriegszeit in der Slowakei. In der Zwischenzeit wurde Tante Lilis Ehemann nach Polen deportiert. Sie selbst blieb mit ihrer Tochter Evička zurück. 1945 schließlich, als ihr Ehemann von den Todeslagern nicht mehr heimkehrte, heirateten Tante Lili und Arpad. Sie wohnten in der Šererovástraße 30 in Piešťany, 1949 emigrierten sie gemeinsam nach Australien.

Arpad starb 1987 mit über achtzig Jahren. Evička starb 1980 ganz plötzlich im Alter von vierzig. Ihr Sohn, Eugene lebt heute in Melbourne und ihre Tochter Sally in London. Wir kommunizieren gelegentlich miteinander. Tante Lili lebt in einem Altersheim in Australien. Sie ist nicht mehr in der Lage mit anderen Menschen zu kommunizieren, denn ihr Gedächtnis hat vor einiger Zeit völlig versagt. Wir werden in einem der nächsten Kapitel nochmals zu Tante Lili und Onkel Arpad zurückkehren.

 

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