Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Naftalis BerichtAls ich in den Krankenbau kam, war meine Wahrnehmung völlig verschwommen ich war jedoch bei Bewusstsein. Körperlich schwer krank und psychisch am Boden zerstört wurde ich in ein Stockbett gelegt. Dann ließ man mich allein. Ich sah Menschen, die kalt duschten und merkwürdige Dinge aßen. Ich spürte, dass gerade etwas Außergewöhnliches passierte. Erst später hörte ich, dass die Evakuation von Buchenwald begonnen hatte. Es gab jedoch Gerüchte, dass die Kranken im Lager zurückbleiben sollten. Aus diesem Grund versuchten diejenigen, die sich bereits erholt hatten, wieder als krank eingestuft zu werden. Manche schluckten alles mögliche Zeug, nur um in den Krankenbau zu kommen. Meine Erkrankung war sehr ernst. Ein polnischer Student half mir. Er unterstütze mich auch moralisch. Ich kann mich nicht an Shmuels Besuch erinnern, habe erst nach dem Krieg davon erfahren. Als ich begriff, dass das Lager geräumt werden sollte, fürchtete ich, dass mein Ende nahe wäre. Als sich mein Gesundheitszustand Tage später etwas verbessert hatte, wurde uns gesagt, dass einige der Kranken ins Lagerbordell übersiedeln sollten. Ich sollte einer von ihnen sein. Ich wusste lediglich, dass das Wort Bordell mit Unordnung und Schweinerei assoziiert wurde und fragte daher, was es wirklich bedeutete. Am nächsten Tag ging unsere Gruppe zu diesem Gebäude hinüber. Zwei schöne und gut gekleidete Damen mit Make-up standen am Eingang. Ich erschrak, denn schließlich bekam man solche Damen normalerweise in einem Todeslager nicht zu Gesicht. Ich wähnte irgendwelche medizinische Experimente, die mit uns durchgeführt werden sollten. Als ich die Baracke betrat, hörte ich sie sagen: „Was für ein hübscher Junge! Schade, dass er so jung ist!“ Ich konnte damals nicht verstehen, worauf sie anspielten. In der Baracke gab es Teppiche und Möbel, wie in einem gewöhnlichen Haus. In Wirklichkeit war es natürlich ein Freudenhaus, das mitten im Lager betrieben wurde. Die Lagerleitung versuchte höchstwahrscheinlich die wahre Funktion dieser Einrichtung zu verschleiern, indem Kinder dort untergebracht wurden.[1] In einem der Vorräume waren Matratzen auf dem Boden für uns hergerichtet. Dies war der Beginn meines Lebens im Lagerbordell von Buchenwald. Die Damen mochten mich. Sie klärten mich über die Art und Weise der Aktivitäten in der Baracke auf, über den Arbeitsraum und das Schlafzimmer. Ich erhielt einen abgetragenen roten Pyjama mit farbigen Streifen. Ich begann mich von meiner Krankheit zu erholen und fühlte mich schon um vieles besser. Dennoch vermuteten die Ärzte, dass ich Wasser in der Lunge hätte. Eine gigantische Injektionsnadel wurde mir zwischen den Rippen eingeführt, um die Flüssigkeit aus meiner Lunge zu saugen. Es war sehr schmerzhaft, aber man entdeckte kein Wasser. Ich erinnere mich heute noch sehr gerne daran, wie eine der Schwestern – höchstwahrscheinlich eine der Huren – mich an sich drückte und mich beruhigte. Im Großen und Ganzen war die Behandlung, die mir hier widerfuhr, hervorragend. Das Essen war wunderbar, ich erhielt sogar Schokolade und Kuchen. Von einem Moment auf den anderen war ich aus der Hölle in den Himmel gekommen. Unter meinem Kissen sammelte ich verschiedene Lebensmittel und Süßigkeiten für Shmuel. Wir waren von der Außenwelt isoliert und wussten gar nichts über diese. In Wirklichkeit bewegten sich die amerikanischen Verbände bereits auf Buchenwald zu und die Deutschen bereiteten die Evakuierung des Lagers einschließlich des Bordells vor. Ich sah, dass die Frauen begannen zu packen und die Räumung erwarteten. Die Deutschen erschienen nicht mehr in der Baracke. Am Morgen des 11. April 1945 hörten wir das Getöse der Artillerie. Während die Frontlinien immer näher rückten, erhob sich der Widerstand im Lager. An genau diesem Tag wurde Buchenwald befreit. Und wo wurde ich befreit? Im Freudenhaus! Nicht jeder Zwölfjährige hat solch eine spezielle Ehre erfahren. Sofort nachdem ich wieder die Luft der Freiheit atmen durfte, begann ich mit der Suche nach Shmuel. Ich traf Menschen, die ihm begegnet waren. Sie berichteten mir zu meinem großen Kummer, dass er nur einen Tag zuvor gezwungen worden war, auf eine Reise zu gehen, die für ihn eine der grausamsten und härtesten werden sollte. Ich hatte gehofft, Shmuel wieder zu treffen und ihm all die guten Sachen, die ich für ihn aufgespart hatte zu überreichen. Meine Enttäuschung war sehr groß. Ich war völlig alleine im befreiten Buchenwald. Die amerikanischen Befreier deckten die Greueltaten auf, die wir erleben hatten müssen, und dokumentierten sie. In den ersten Tagen der Freiheit herrschte noch sehr große Unordnung im Lager. Da es uns nicht erlaubt war, das Lager zu verlassen, wanderten wir ziellos von einer Baracke zur anderen. Wir sahen uns auch das Krematorium und die Folterzellen an und öffneten schließlich auch das Kleiderlager. Dort probierten wir auch die SS-Uniformen an. Es dauerte nicht lange, bis wir in Gruppen nach Herkunftsländern organisiert waren. Unter den Organisatoren befand sich auch ein Mann, der vorgab, der Bruder von General Viest, einem slowakischen Held, zu sein. Er kümmerte sich um die tschechoslowakische Gruppe, die vierzehn Tage später auf Lastwägen in die Tschechoslowakei gebracht wurde. Bei unserer Ankunft in Bratislava wurden wir von der jüdischen Gemeinde, die bereits wieder funktionierte, willkommen geheißen. Als erstes versuchte ich herauszufinden, wer überlebt hatte. Mir wurde berichtet, dass es bisher keine Informationen über meine Familie gab und dass ich der erste sei, der zurückgekehrt war. Die Funktionäre der jüdischen Gemeinde rieten mir, zu Onkel Andor nach Nove Mesto zu gehen. Sie versorgten mich mit etwas Geld für meine Fahrkarte. Im Zug erkannte mich jemand und erzählte mir, dass Onkel Arpad und Tante Lili in Piešťany wären. Das war etwa dreißig Kilometer näher als Nove Mesto. Ich stieg also in Piešťany aus und ging zu dem Haus, an dem mich damals die Hlinka-Gardisten gefasst hatten. Ich klopfte an der Tür und sagte: „Da bin ich!“ Ich berichtete kurz über mein Schicksal und über alles, was ich über den Rest der Familie wusste. Zu dieser Zeit hatten wir noch nichts von ihnen gehört. Mein Onkel und meine Tante waren glücklich, mich bei sich zu haben, aber die Abwesenheit meiner Eltern und von Shmuel erfüllte uns alle mit großer Sorge. Nach mehreren Wochen erreichte uns vom Prager Krankenhaus die Nachricht, dass Shmuel überlebt hatte, dass aber seine schwerwiegende Erkrankung noch einen längeren Krankenhausaufenthalt erforderlich machte. Eine weitere gute Nachricht erreichte uns aus Piešťany. Dort hatte man im Radio gehört, dass meine Mutter im Lager Lippstadt befreit worden war. Einige Tage später hörten wir zu unserer Erleichterung, dass auch mein Vater die Befreiung erlebt hatte, und dass wir seine Ankunft bald erwarten durften. Ich fuhr also zur Familie Formánek in Bratislava, deren Haus in der Šulekovástraße Nummer 8 als Treffpunkt für unsere Familie vereinbart worden war. Bei meinem Eintreffen war Vater schon da, Mutter kam ein paar Stunden später. Wir waren wieder beisammen, glücklich und voll positiver Energie. Es ist schwer das wunderbare Gefühl meine Eltern wieder zu sehen zu beschreiben. Kann irgendetwas aufregender und glücklicher sein als solch ein Moment? Unsere Freude kannte keine Grenzen, aber wir vermissten Shmuel.
[1] „Seit 1942 gab es für
langjährige Häftlinge und Funktionäre sogenannte
Hafterleichterungen. Sie berechtigten zum wöchentlichen Briefverkehr
und zum bevorzugten Kantineneinkauf. Häftlinge, die im Besitz eines
entsprechenden Ausweises waren, durften sich außerdem das Haar
waschen lassen. Im Mai 1943 führte die SS ein Prämiensystem ein. Für
besondere Arbeitsleistungen gab es Kantinenbezugsscheine, das
sogenannte Lagergeld.
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