Die Brüder Fürst    BRATIA FÜRST

 

Shmuels Bericht

Die Befreiung

Im Morgengrauen des sechsten Mai fuhren wir in einer Stadt ein. Wir lagen am Boden des Waggons und sahen tschechoslowakische Flaggen auf den Dächern der Häuser wehen. Wir verstanden, dass sich die Lage verändert hatte. Und plötzlich war der deutsche Soldat verschwunden. War er geflüchtet? War er gefangen genommen worden? Vielleicht hatte ihn jemand getötet? Wir hatten keine Ahnung. Es gab keinerlei Aufzeichnungen oder Begleitdokumente für diesen Zug und daher war es auch nicht möglich, ihn aufzuspüren.

Wir kamen am Bahnhof von Terezin an. Diese Stadt war bereits befreit worden und unter tschechischer Herrschaft. Da unser Zug nicht der erste dieser Art war, waren die Menschen, die uns empfangen haben, auf den Anblick, der sie beim Öffnen der Waggons erwartete, bereits vorbereitet.

In meinem Waggon gab es genau sechs Überlebende. Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen in den anderen Waggons überlebt haben, aber aus all dem, was ich gelesen habe, schließe ich, dass es sogar noch weniger gewesen sind.

Wir sechs wurden auf Tragen in einen großen Saal getragen und dann nebeneinander auf Matratzen gelegt. In der ersten Nacht wurden vom Roten Kreuz Essenspakete mit Schokolade und Keksen ausgegeben. Ich war kaum fähig, das Paket aufzumachen und aß auch fast nichts. Nur die Schokoladetafel habe ich unter meinem Hemd versteckt; meine Erfahrung hatte mich doch gelehrt, dass sie sofort gestohlen werden könnte.

Bei Tagesanbruch kamen die Ärzte und Krankenschwestern und nahmen die Behandlung auf. Trotz ihrer Führsorge und Hingabe waren wir alle bereits dem Tod näher als dem Leben. Später erfuhr ich, dass drei Männer aus unserer Gruppe von sechs, diejenigen die den Inhalt der Pakete essen hatten können, innerhalb der folgenden Tage gestorben waren. Über das Schicksal der anderen zwei weiß ich nichts. Vielleicht bin ich der einzige Überlebende des gesamten Waggons.