Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Shmuels BerichtDer TodesmarschNachdem ich Naftali im Krankenblock besucht hatte, sah ich ihn nicht mehr. Durch meinen andauernden Kontakte mit dem Krankenblock wusste ich jedoch, dass er lebte. Das war kurz vor der Evakuierung des Lagers. Wie immer in solchen KZ-Entscheidungssituationen, stand ich wieder vor dem unlösbaren Dilemma: Sollte ich mir ein Versteck innerhalb des Lagers suchen und dort bleiben, bis das Schlimmste vorüber wäre, oder sollte ich mich der Hauptmasse anschließen und das Lager verlassen. Welche der zwei Möglichkeiten wäre wohl die bessere? In der Zwischenzeit destabilisierte sich das Leben im Lager immer mehr und sogar die Verantwortlichen konnten die Risken und Chancen nicht mehr abschätzen. Der Untergrund im Lager betätigte sich im wahrsten Sinne des Wortes. Die Leiter kümmerten sich nicht nur um die um die Mitglieder, sondern organisierte auch das Ausheben von Gräben und Tunnels. Am 10. April 1945 begann die Evakuierung. Alle Häftlinge mussten ihre Baracken verlassen und sich am Hauptplatz des Lagers einfinden. Als wir uns dort in Reih und Glied aufstellten, flogen amerikanische Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg. Die versammelten Menschen brachen in Panik aus, denn sie befürchteten einen Luftangriff. Einige rannten weg, ich aber war in der Mitte der Menschenmenge gefangen und konnte mich nicht wegbewegen. Später am Nachmittag erhielt jede Person einen Laib Brot und eine Portion Margarine. Es wurde uns gesagt, dass wir uns auf eine Lange Fahrt einrichten sollten. Das Lager von Buchenwald befand sich mitten im Wald von Buchenwald. Fünfzig Jahre nach meiner Inhaftierung, das war 1995, besuchte ich das Lager wieder. Ich war zusammen mit anderen ehemaligen Häftlingen eingeladen, an den Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Jubiläum der Befreiung des Lagers teilzunehmen. Es war das einzige Konzentrationslager, das ich je besucht habe, und ich sah wieder die Schönheit und den Zauber des Waldes, der diesem berüchtigten Lager seinen Namen gegeben hatte. Wir verließen das Lager, marschierten einen Weg entlang, der durch den Wald führte, an einem schönen Frühlingstag. Alles um uns herum war grün und blühte. Am Ende des neun Kilometer langen Marsches erreichten wir den Bahnhof von Weimar. Dort wurden wir, jeweils einhundert Personen jeglicher Art und Herkunft, jung und alt, in offene Zugwaggons verladen. Wir konnten kaum aufrecht stehen, so überfüllt waren die Waggons. Sofort setzten heftige Streitereien zwischen den Menschen ein, und es dauerte nicht lange, bis die ersten tot zusammensackten. All das geschah, als der Zug sich noch im Bahnhof befand. Starben sie wegen der Überfüllung oder wegen der Kämpfe, oder einfach aus Schwäche? Keiner weiß das mehr. Bei Einbruch der Nacht setzte sich der Zug in Bewegung. Die erste Nacht war nicht allzu schlimm, obwohl viele Menschen sich nicht mehr auf ihren Beinen halten konnten und über einander zusammenbrachen. Während der ersten zwei Tage der Fahrt erlaubten uns die Deutschen nicht, die Leichen aus dem Wagen zu entfernen. Die Toten reisten also zusammen mit den Lebenden und die Gesamtzahl der Menschen blieb erhalten. Nach einiger Zeit jedoch begannen die Leichen fürchterlich zu stinken. In der zweiten Nacht dann begannen die Erwachsenen damit, die Leichen aus dem Zug zu werfen. Das verschaffte uns etwas mehr Platz im Waggon. Nun setzte Dauerregen ein, der den Rest der Fahrt anhalten sollte. Wir standen in den offenen Waggons und wurden völlig durchnässt. Der große Vorteil des Regens war jedoch, dass wir Trinkwasser sammeln konnten. Nach und nach hatten wir unser Brot verzehrt und es sollte unsere einzige Nahrung auf dieser Fahrt bleiben. Der Zug fuhr weiter. Nur gelegentlich hielt er. Mit zunehmender Dauer der Fahrt formierte sich eine Art Hierarchie unter den Insassen. Die kräftigeren Männer besetzten den Raum entlang der Außenwände der Waggons. Dort war es bequemer und geschützter. Obwohl der Platz nicht ausreichte, um sich hinzulegen, war es doch halbwegs erleichternd, sich an die Wände zu lehnen. Wir Kinder mussten jedoch damit vorlieb nehmen, uns in der Mitte des Waggons auf den Boden zu kauern, zusammen mit den Schwachen und Kranken. Im Laufe der Fahrt lernte ich einen polnischen Jungen besser kennen. Um es uns etwas bequemer zu machen, lehnten wir uns Rücken an Rücken an einander. Auf diese Weise schafften wir es sogar etwas zu schlafen, wenn man es „Schlaf“ nennen kann, im offenen Wagen dem Dauerregen ausgesetzt zu sein. Zu dieser Jahreszeit war der Regen noch extrem kalt, manchmal gefror er zu Eis. Unsere Fahrt schien niemals enden zu wollen, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Der Hunger und die Kälte machten die Menschen verrückt. Sie stritten heftig und schrieen einander an, während andere um Beruhigung bemüht waren. Wir fürchteten, dass die deutschen Soldaten, die zur Bewachung unserer Waggons abgestellt waren – jeder der Waggons hatte solch eine Wache – einschreiten und auf uns schießen könnten. Der Zug fuhr weiter und mehr und mehr Menschen starben. Mit jedem Toten bekamen die noch Lebenden mehr Platz, auch die Kleider der Toten wurden verteilt. Es dauerte eine Woche bis der Zug endlich wirklich stehen blieb. Irgendwo auf freier Strecke. Man hieß uns aussteigen. Dieser Befehl war sehr angebracht, da die Waggons voll mit Fäkalien waren. Dreck überall. Wir konnten uns endlich einmal strecken. Als wir aus dem Waggon kletterten, sahen wir eine riesige Wiese vor uns. Sofort begannen wir mit bloßen Händen nach Wurzeln zu graben. Etwas Nahrhaftes und ein wenig Flüssigkeit. Nur wenige von uns fanden wirklich etwas. Nichtsdestoweniger war diese Pause eine große Erleichterung und das frische Gras stillte unseren schrecklichen Hunger etwas. Bei einem weiteren nächtlichen Stopp sprangen einige Insassen vom Zug und rannten auf einen Pferdekadaver zu, der neben den Gleisen lag. Das Fleisch war ungenießbar, und wir konnten nur an einigen Stücken saugen. Es reichte um uns zumindestens eine vage Vorstellung von wirklichem Essen zu geben. Es war die einzige Nahrung, die wir in diesen Tagen des Horrors ergatterten. Eines Morgens erwachte ich aus einem, wie mir schien, ungewöhnlich guten und erholsamen Schlaf. Zutiefst schockiert musste ich erkennen, dass der polnische Junge, mein Kamerad während dieser Fahrt, in der Nacht gestorben war. Er war zusammengebrochen, und im Schlaf hatte ich mich über seinem Körper ausgestreckt. Ich fühlte mich plötzlich so alleine und verloren, denn er war die einzige Menschenseele in diesem Waggon gewesen, der ich mich zugetan gefühlt hatte. Die Tage vergingen und die Menschen wurden schwächer und schwächer, nicht mehr alle waren in der Lage in eine Ecke des Waggons zu schleppen, um die Notdurft zu verrichten. Das führte zu weiteren heftigen Streitereien. Die starken Männer drohten den anderen, dass jeder, der seine Notdurft auf dem Boden und nicht in der Ecke des Waggons verrichtet, sofort aus dem Waggon fliegen würde. Nur die Anwesenheit der deutschen Soldaten hielt sie davon ab, ihre Drohung in die Tat umzusetzen. Die Fahrt führte uns nach Böhmen. Der Zug hielt an einem tschechischen Bahnhof. Wir sahen die ortsansässigen Menschen, wie sie zur Arbeit gingen. Wir flehten sie an, uns etwas zu essen zu geben. Sie gaben uns, was sie bei sich hatten. Es war nicht viel, aber ihr Akt der Menschlichkeit berührte uns sehr. Sie versuchten alles, um uns zu helfen, und warfen uns Essensreste zu. Aber sie konnten nicht nahe genug herankommen. Der Zug fuhr wieder an und wir blieben hungrig. Der nächste Halt war in einer weiteren tschechischen Stadt. Wir konnten den Bürgermeister dieser Stadt hören, wie er von den Deutschen forderte, umgehend alle nicht-jüdischen Tschechen und Slowaken frei zu lassen. Diese sollten dann beim Verlassen des Zuges ihre Papiere vorweisen. Ich beschloss sofort diese Chance am Schopf zu packen. Ich stellte mich also an, und als ich an die Reihe kam, wurde ich gefragt, wie es hatte passieren können, dass ich, ein tschechisches oder slowakisches Kind, alleine auf diesem Zug war. Ich erfand meine Geschichte: Mein Vater wäre am Schwarzmarkt tätig gewesen und nachdem er erwischt worden war, wurde er ins Lager deportiert, zusammen mit seiner Familie. Anscheinend klang meine Geschichte glaubwürdig aber dann sagte einer der Beamten: „ Okay, lass uns sehen. Zieh deine Hosen aus!“ Ich antwortete: „Ich kann jetzt nicht. Ich muss zuerst auf die Toilette.“ Ich eilte wieder zurück in den Waggon, weil ich fürchtete mein Schwindel würde auffliegen. Später hörte ich, dass nur eine handvoll an Menschen wirklich frei gelassen worden waren. Der Moment, in dem mein Befreiungsversuch scheiterte, war ein Wendepunkt für meine psychische und körperliche Verfassung. Mit meiner Gesundheit ging es steil bergab, und bald konnte ich kaum mehr aufrecht stehen. Später sagte man mir, dass dies die ersten Symptome der tödlichen Krankheit, die ich mir zugezogen hatte, gewesen sind: Typhus. Ich muss hinzufügen, dass ich schon in Buchenwald unter einem Mangel an Mineralstoffen gelitten hatte. Vitamin- und Nährstoffmangel hatte dazu geführt, dass sich meine Zähne gelockert hatten. Diese Reise in den Tod begann am zehnten April und endete am sechsten Mai 1945, wenige Tage vor Ende des Krieges in Europa. Während all dieser siebenundzwanzig Tage fuhr der Zug von einem Punkt zum nächsten, nur um sofort wieder abzufahren. Wie bereits erwähnt bestand die „Nahrung“, die ich zu mir nahm aus einem Laib Brot, ein paar Grashalme, und dem aussichtslosen Versuch, das Fleisch eines toten Pferdes zu lutschen. Und immer dem Regen und der Eiseskälte ausgesetzt. In der letzten Phase der Irrfahrt und auch am Tag unserer Befreiung war ich von unzähligen toten Körpern umgeben, und auch ich fühlte, dass mein Körper im Begriff war sich aufzulösen.
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