Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Der HolocaustBuchenwaldAm Ende unserer Fahrt fuhr der Zug über ein Nebengleis in ein Lager ein. Dieses Nebengleis war für einen einzigen Zweck gebaut worden: neue Häftlinge zu entladen. Der Name des Lagers war uns unbekannt; erst später erfuhren wir, es war Buchenwald. Als wir in eine große, gut beleuchtete Halle gebracht wurden, waren wir angenehm überrascht, denn die Lage erschien uns viel besser als im Zug. Auch der Ton und die Behandlung der Aufseher machten auf uns den Eindruck, dass hier ein anderes Regime herrschte. Als trotz unserer Bitten alle unsere Kleider eingezogen wurden, wurde uns gesagt, dass wir keine Sorge haben müssten. Kurze Zeit später wurden wir auch wirklich neu eingekleidet. Der nächste Schritt war die Registrierung. Wir nahmen an, dass unsere Daten von Birkenau nach Buchenwald übermittelt worden waren, was aber nicht der Fall war. Jeder von uns bekam eine neue Nummer, halbwegs gut erhaltene Bekleidung, und eine Mütze. Jede Gruppe von Häftlingen wurde mittels eines eigenen Systems von Kennzeichen mit verschiedenen Symbolen (in Form von Dreiecken bzw. Winkeln) in diversen Farben markiert[1]. Natürlich auch wir. Unser Symbol war ein schwarz-roter Stern, was für „politisch“ und „jüdisch“ stand.[2] Wir kamen in eine große Baracke, die bereits voll mit Häftlingen war. Diese Menschen aller Altersgruppen waren vor uns nach Buchenwald gekommen, und sie kamen aus aller Herren Länder. Uns wurde die oberste Etage der vierstöckigen Stockbetten zugewiesen. Die Baracke war dunkel und düster, Hoffnungslosigkeit erfüllte den Raum. Unsere körperliche Konstitution war bereits sehr schlecht. Ich war sehr schwach und auch krank. Shmuels Zehen waren erfroren. Es gab fast nichts zu essen und das Stehlen unter den Häftlingen war unerträglich. Nach drei Wochen begannen wieder neue Selektionen für die Deportationen. Keiner wusste, wohin er gebracht werden würde. Dann kam der Tag, an dem wir getrennt wurden. Bis zu diesem Tag hatten wir alles versucht, um beisammen zu bleiben, aber jetzt waren wir völlig ausgeliefert. Wir erfuhren an diesem Tag auch, dass es in unserer Baracke noch ein weiteres Brüderpaar mit dem selben Problem gab. Der ältere von ihnen schlug Shmuel vor, dass sie ihre Namen und Identitäten tauschen sollten, sodass jeder bei seinem wirklichen Bruder bleiben konnte. Shmuel und ich gingen auf diesen Vorschlag ein und überließen ihnen die Entscheidung, ob sie im Lager bleiben oder es mit dem nächsten Transport verlassen wollten. Nach einigem hin und her entschieden sie sich, das Lager zu verlassen. Diese Entscheidung besiegelte ihr Schicksal, ihren Tod und unser Überleben. Gegen Abend waren sie zum Bahnhof von Buchenwald gebracht und in Viehwaggons verladen worden. Später am Abend bombardierten die Alliierten den Bahnhof und alle Menschen in den Waggons wurden getötet. Man erzählte, dass einige wenige versucht hatten zu fliehen. Die Deutschen erschossen sie jedoch.
Shmuel: Seit diesem Ereignis hatte ich also einen neuen Namen. Er begann mit „Sh“, vielleicht Stern oder Strass. Ich kann mich heute nicht mehr genau daran erinnern. Buchenwald war ursprünglich ein Straflager für politische Häftlinge. Es gab keine Kinder im Lager. Die dort entstandene Geheimorganisation[3] war ein integraler Teil der Lager- und Häftlingsorganisation. Sie hatte einen speziellen Status und sie verhandelte sogar mit den Deutschen. Man kann nicht sagen, dass sie irgendwelche direkte Befehlsgewalt hatte, aber sie verstand, dass alles ein Geben und Nehmen bedeutete. Die Lagerkomitees konnten von den Deutschen nicht einfach völlig ignoriert werden – schon gar nicht Ende Jänner 1945. Auf Initiative und Drängen dieser Komitees wurde zu dieser Zeit auch eine spezielle und abgesonderte Baracke für Kinder eingerichtet[4]. Ďuro wurde in die Kinderbaracke, den Block 66, überstellt. Da ich jedoch unter falschem Namen registriert war und das Alter dieser Identität mit 17 angegeben worden war, wurde ich dem Block 49 zugeteilt und nicht dem Kinderblock. Zu meiner großen Sorge waren wir dadurch getrennt. Einige Menschen um mich herum versuchten mich zu trösten aber ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Ich habe immer wieder versucht, Ďuro ausfindig zu machen. Und er – so erfuhr ich später – suchte nach mir. Eines Tages rief jemand: „Wo ist Peter Fürst? Er muss sich sofort melden!“ Als ich meinen Namen hörte, verkroch ich mich ganz hinten in meiner Baracke, sie riefen aber weiter „Es ist gut, du kannst kommen.“ Ich fürchtete, dass mein Schwindel aufgeflogen war und ich wagte es nicht, hervorzukommen. Als ich mich nicht rührte, gaben sie ihre Suche auf und gingen. Zwei Tage später wurde erneut nach mir gesucht. Ich traf auf andere Knaben und sie beschrieben mein Aussehen. Sie sagten auch, dass sie mich zu meinem Bruder bringen würden. Nach langem Zögern gab ich mich ihnen zu erkennen. Ein Pole kam auf mich zu und strich mir über den Kopf um mich zu beruhigen. Er sagte: „ Ich kann verstehen, dass du dich beim ersten Mal nicht gemeldet hast. Dein jüngerer Bruder wartet auf dich. Komm mit!“ Später erfuhr ich, dass dieser Mann vom Lagerkomitee bestellt worden war, sich um die Kinder zu kümmern. Er wurde zu ihrem „Vater“. Ich meldete mich also beim Blockältesten. Er versprach mir, dass er die Sache mit den vertauschten Namen regeln würde. So verließ ich den Block 49 und kam in den Block 66, den Kinderblock des Kleinen Lagers. Dort traf ich Ďuro. Wir waren überglücklich, wieder beisammen zu sein. Über 900 Kinder lebten in diesem Block[5]. Er war völlig überfüllt, die Lage war jedoch besser als im Rest des Lagers. Die Verpflegung war die gleiche, aber die Verteilung war viel gerechter und korrekter. Was die Hygiene, wie Waschen, Haare schneiden und dgl., anbelangte, so wurden die Knaben versorgt. In der Nacht war die Baracke beheizt. An manchen Abenden wurden die Kinder zusammengerufen. Man gab ihnen Informationen über die aktuellen Ereignisse in der Welt und über den Krieg. All dies wurde von einer gut organisierten Häftlingsorganisation, die die Knaben auch ermunterte, ihre Moral zu heben, durchgeführt. Es wurde sogar gemeinsames Singen eingeführt. Die Baracke war in zwei Teile geteilt: in der einen Hälfte lebten die polnischen Kinder, in der anderen die Kinder der restlichen Nationen. Wir waren bei den ungarischen Kindern. Sie hatten eine schreckliche Angewohnheit: den ganzen Tag lang fantasierten sie vom Essen. Jeder erzählte, was seine Mutter früher zu kochen und zu backen pflegte: Kuchen mit Schlagsahne oder Mohn und viele andere Köstlichkeiten. Der tägliche Appell wurde in der Baracke selbst durchgeführt. Die Jungen mussten so nicht bei eisigkaltem Wind im Freien und im Schlamm stehen. Das war wirklich eine große Erleichterung. Zu dieser Zeit jedoch verschlechterte sich Ďuros Gesundheitszustand immer mehr. Er entwickelte eine Lungenentzündung, hustet unablässig und hatte hohes Fieber. Ich war völlig verzweifelt und deprimiert, denn ich konnte ihm nicht helfen. Der Blockälteste entschied dann, Ďuro in den Krankenbau zu verlegen. Nur einmal durfte ich ihn dort besuchen. Ich war glücklich, dass ich ihn bei vollem Bewusstsein sah, denn bei seiner Einlieferung dachte ich, dass er die Krankheit nicht überleben würde und dass ich ihn nie mehr zu Gesicht bekommen würde. Er gab mir sogar einen Laib Brot. Nach diesem Besuch trennten sich unsere Wege. Wir trafen einander erst wieder nach dem Krieg in der Slowakei. [1] Abzeichen in den Konzentrationslagern dienten zur Kennzeichnung und zusätzlichen Stigmatisierung der Häftlinge in den Konzentrationslagern. Diese Kennzeichnung geschah hauptsächlich mit Hilfe von farbigen Stoff-Dreiecken, deren Spitze nach unten zeigte. Aufgrund dieser Form werden die Abzeichen auch "Winkel" genannt. Sie wurden auf die Jacken und Hemden der Opfer genäht, damit die Wächter schnell den Grund ihrer Inhaftierung erkennen konnten. Vgl. „Die Kategorien der KL-Gefangenen“. In Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frechen : Komet 2000. Seite 66ff. [2] Üblicherweise wurden politische Häftlinge mit einem roten Winkel, jüdische mit gelben (meist zwei gelbe Winkel, die aufeinander gesetzt waren und so den Davidstern bildeten) und asoziale Häftlinge mit schwarzen Winkeln gekennzeichnet. Es gab viele verschiedene Markierungen. Ein Häftling hatte typischerweise mindestens zwei und manchmal sogar mehr als sechs. Die Abzeichen drückten ihre Träger sehr schnell in eine Kategorie, die zu einer regelrechten Lagerhierarchie führte. Verschiedene Häftlingsgruppen genossen unter den Aufsehern und ihren Mithäftlingen verschiedenes Ansehen. [3] Vgl. dazu „Überlebensstrategien und Widerstand“ in: Konzentrationslager Buchenwald 1937 - 1945: Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung / hrsg. von der Gedenkstätte Buchenwald. Erstellt von Harry Stein. - Göttingen : Wallstein-Verlag, 1999. S. 207-216. [4] „Zusammenarbeit gab es auch, wenn es darum ging, einem teil der Kinder und Jugendlichen zu helfen. Durch die Einrichtung zweier Baracken für Kinder – Block 8 (1943) und Block 66 im Kleinen Lager (1945) – konnten wenigstens einige der im Stammlager befindlichen Kinder und Jugendlichen in abgeschirmten Bereichen vor schwerer Zwangsarbeit bewahrt werden und überleben.“ Ebenda, S. 215-216. [5] In einem im April 1945 verfassten Bericht über die Kinder heißt es: „Die Anzahl der Kinderinsassen im Buchenwalder Konzentrationslager bezifferte sich auf ca. 900. Ihre nationale Gliederung ist folgende: Kinder in Buchenwald: Polen 288, Tschechoslowakei 270, Ungarn 290, Jugoslawien 42, Sowjetunion 6, Österreich 6, Deutschland 2, insgesamt 902. Die Altersstufe zwischen 14 und 18 Jahren macht ca. 85% der Gesamtzahl der Kinder aus. Das jüngste, ein dreijähriges Kind, ist von polnischer Nationalität.“ Ebenda, S. 216.
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