Die Brüder Fürst    BRATIA FÜRST

 

Der Holocaust

Der Kinderblock

Nach einiger Zeit wurde uns befohlen, mit den anderen Kindern und Jugendlichen in den Kinderblock zu ziehen. Das war eine für uns eine überaus erschreckende Anordnung, denn der Kinderblock war eine berüchtigte Einrichtung. Solange die Gaskammern betrieben wurden, diente dieser Block als menschliches Notlager. Soll heißen, immer wenn die Zahlen der für die Gaskammern gelieferten nicht deren volle Kapazitätsgrenze erreichten, wurden Kinder aus dem Kinderblock geholt, um die Quote zu erfüllen. Der Mann, der dem Kinderblock vorstand, war ein Ukrainer oder Weißrusse mit dem Namen Oleg. Seine Grausamkeit war im ganzen Lager bekannt. Niemand war in der Lage, diese besondere Art der Gewaltherrschaft zu beenden. Wir wurden also in den Kinderblock, das ist Block 29, transferiert. Die Trennung von unserem Vater, der im zentralen Teil des Lagers verblieb, erfüllte uns mit Entsetzen. Shmuel und ich wurden von unbeschreiblicher Angst gepeinigt.

Im Block selbst herrschten Greueltaten und härteste Bedingungen. Es gab nichts zu essen und überall kranke und sterbende Kinder. Jeden Morgen wachten wir neben toten Knaben auf. Dann wurden ihnen von anderen die Kleider ausgezogen und ihre wenigen Habseligkeiten gestohlen. Die Leichen blieben nackt in ihren Kojen liegen. Als erstes mussten dann die toten Körper aus den Baracken entfernt werden. Der einzige Vorteil war, dass das Zählen der Häftlinge im Block selbst stattfand. Wir wurden für den täglichen Appell nicht ins Freie gejagt.

Dort im Kinderblock waren wir das erste Mal allein mit Furcht und Terror konfrontiert. Einmal – wir haben nie erfahren unter welchen Umständen genau das möglich war – erschien Vater bei der rückseitigen Lucke unseres Blocks. Er teilte uns mit, dass er aus Birkenau deportiert werden sollte, und sagte uns Lebewohl. Er blickte in Shmuels Augen und Shmuel verstand, dass er nun die Verantwortung übernehmen musste. Als wir noch in Sered gewesen waren, als mein Vater nicht im Lager und wir mit unserer Mutter zusammen waren, hatte er schon einmal erlebt, wie es ist, das Familienoberhaupt zu sein. In Birkenau war die Lage jedoch eine völlig andere. Unsere Eltern waren nicht mehr bei uns und Shmuel wurde die Verantwortung übertragen. Vielleicht hat ihm das Verantwortungsgefühl auch die Kraft verliehen, für seinen kleineren Bruder zu sorgen, statt mit seinen eigenen Emotionen zu hadern. Rückblickend hat Shmuel bestätigt, dass ihm das geholfen hatte, die Stunden und Tage der Verzweiflung zu überstehen.

Aber damals waren wir überzeugt, dass wir am Ende unseres Lebens angelangt waren. Wir konnten uns auch nicht sicher sein, dass das Töten im Gas gestoppt worden war und uns war auch nicht bekannt, dass die Deutschen längst damit begonnen hatten, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen.

Die Bürde der Verantwortung war für Shmuel nicht einfach. Da die Stehlereien immer während der Nach stattfanden und diejenigen, die einen besonders tiefen Schlaft hatten, als erstes bestohlen wurden, fürchtete er den Schlaf. Schließlich wollte er nicht am nächsten Morgen aufwachen, nur um festzustellen, dass das Wenige, das wir hatten, für immer verschwunden war. Wir gehörten auch noch zu den kleineren Kindern des Blocks. Viele Jugendliche waren größer und stärker, und sie nutzen ihre Stärke, um die anderen zu terrorisieren, vor allem als die Zeit verstrich und immer weniger Nahrung zur Verfügung stand und mehr Kinder krank wurden. Der Block war zum Bersten überfüllt und jeder Tag brachte neue Kämpfe um Leben und Tod. Schreien, Fluchen und Prügel beherrschten das Klima. Wir hockten den ganzen Tag herum, hungerten und taten nichts. Zu unserem Glück hatten es Shmuel und ich noch ganz gut erwischt. Immerhin waren wir erst viel später in diesen Block gekommen. Viel später als die vielen anderen, die durch ihren langen Aufenthalt bereits völlig entkräftet waren.

Da wir verschieden sind, unterscheiden sich auch unsere Erinnerungen an den Kinderblock in Birkenau.

Shmuel: Eines meiner schockierendsten Erlebnisse war meine erste Begegnung mit sexuellen Abartigkeiten, die ich im Brausebad des Lagers miterlebte. Dieses befand sich zusammen mit den Latrinen außerhalb unseres Blocks. Wie bereits erwähnt, war Reinlichkeit eine unserer Familienregeln. Obwohl das Wasser eiskalt war, hielten wir diese Regel strikt ein und duschten, wenn es möglich war. Beim Duschen wuschen wir immer auch einen Teil unserer Kleidung. Da wir keine anderen Kleider besaßen, wuschen wir entweder das Hemd oder die Hose und trockneten sie danach am Körper.

Ich wusste nicht, was die Männer wirklich taten, aber ich hörte das Schreien und sah die abstoßenden Szenen, die mich zutiefst erschreckten. Obwohl ich selbst nie bedroht wurde oder in diesem Zusammenhang einer Gefahr ausgesetzt war, begriff ich dennoch mehr oder weniger, dass hier passierte, und was ich sah, erschien mir nicht als normal.

Naftali: Für mich bedeutete der Kinderblock in Auschwitz-Birkenau das extremste Martyrium, das ich bis dahin durchzumachen hatte. Ohne unsere Eltern waren wir ganz alleine den schwierigsten Umständen ausgesetzt. Dort an diesem Ort plagte mich die quälende Frage: Gibt es einen Gott? Wenn Gott existiert, wo ist er dann? Ich erinnere mich, dass ich einmal alleine in der Latrine war und ich Gottes Existenz testen wollte. Ich begann ihn zu verfluchen, wollte prüfen, ob er mich hören konnte, ob er Kinder überhaupt hört. Um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich ziemlich panisch im Lichte meiner dreisten Prüfung. Als ich die Latrine verließ, merkte ich jedoch, dass nichts passiert war und sich nichts verändert hatte. In diesem Augenblick verlor ich meinen Glauben an Gott und fühlte nur noch Einsamkeit und Furcht, als ob die ganze Welt auseinander brechen würde.

Im Block selbst war die schrecklichste Sache die Hygiene und die Toiletten. Es ist schwierig zu beschreiben, was ich durchmachte, wann immer ich meine Notdurft verrichten musste. Am Ende der Baracke, schon fast im Freien, gab es über achtzig Zentimeter hohe Kanister. Sie waren voll mit Fäkalien und rochen fürchterlich. Jede Nacht ging ich in der fürchterlichen Kälte – manchmal barfuss – hinüber zu diesen Behältern. Wie die meisten Buben musste halt auch ich auf die Toilette gehen. Für mich war das die Hölle.

Im Lager gab es auch Menschen, die jenseits der Grenzen des für sie Erträglichen angelangt waren und beschlossen, Selbstmord zu begehen. Nacht für Nacht hörte ich zu meinem Entsetzen ihr Schreien, bis sie starben. Zu dieser Zeit bekamen wir auch unsere erste Lektion, was den Handel mit Nahrungsmitteln anbelangt. Da gab es Frauen hinter den Elektrozäunen, mit denen wir Brot für Zwiebeln tauschten. Es jagte uns jedes Mal einen fürchterlichen Schrecken ein, wenn wir unsere Arme zwischen den geladenen Stacheldrähten durchreckten. Noch heute, über fünfzig Jahre später, habe ich dieses Bild des Zaunes vor meinen Augen, wenn ich Zwiebeln esse.

Ein anderes, sehr persönliches Erlebnis fällt mir immer wieder ein. Im Lager von Sered war auch eine Familie, die in Bratislava gute Freunde meiner Eltern gewesen waren. Ihre Tochter, Marika Rab, war seit meiner Schulzeit meine Freundin gewesen. Sie war ein sehr süßes und hübsches, rundliches und etwas übergewichtiges Mädchen. Sie war acht Jahre alt und ich mochte sie sehr gerne leiden. Kurz vor unserer Deportation war unsere Freundschaft enger geworden. Marika und ihre Eltern wurden vor unserer Deportation nach Auschwitz verschleppt. Dort, in Birkenau, direkt nach unserer Ankunft, sah ich sie zu meiner Überraschung wieder. Sie ging gerade zusammen mit ihrer Mutter und anderen Frauen in Reih und Glied in die entgegen gesetzte Richtung. Ich wusste nicht wohin. Wurden sie gerade ins Krematorium gebracht? Ich weiß bis heute nicht, ob sie uns sah, für mich jedenfalls war es das letzte Mal, dass ich ihrer ansichtig wurde und Marika blieb mein ganzes Leben lang in meiner Erinnerung. Oft spielte ich mit dem Gedanken, ob sich, wenn sie gerettet worden wäre, unsere Freundschaft vielleicht zu einer ernsthafteren Beziehung entwickelt hätte. Zu meinem großen Leidwesen überlebte sie diese Tage des Horrors nicht.

 

Kinder von Buchenwald am Tag der Befreiung, Naftali Fürst im gelben Kreis