Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Der HolocaustDer BauernhofAn einem bewölkten und regnerischen Tag Mitte Dezember wurde uns mitgeteilt, dass der Kinderblock evakuiert werden sollte und dass wir in verschiedene Lager gebracht würden. Jeder Knabe wurde nach seinem Wissen und seinen Fertigkeiten befragt. Wir sagten, dass wir Tischler wären. Das entsprach ja auch der Wahrheit, denn in Sered hatten wir in der Tischlerei gearbeitet. Diese Arbeit hatte dazu beigetragen, dass wir beisammen bleiben konnten. Heute, da diese Erinnerungen niedergeschrieben werden, halte ich immer noch ein deutsches Dokument in Händen. Es betrifft unsere Überstellung von Auschwitz-Birkenau nach Buchenwald, unser nächstes Ziel, und das uns als Tischler ausweist. Eines Morgens wurde uns befohlen, alle unsere Sachen zusammenzupacken und ins Hauptlager von Auschwitz zu marschieren. In Wirklichkeit hatten wir nichts außer unseren abgetragenen Kleidern. Das einzige, was von Wert war, waren unsere Schuhe. Wir erreichten also das Haupttor von Auschwitz, wo wir stundenlang auf die nächsten Anweisungen warteten. Wir sahen und hörten die Häftlingskapelle von Auschwitz. Dann mussten wir unseren Marsch fortsetzen. Wir erreichten ein landwirtschaftliches Anwesen mit dem Namen „Landwirtschaft Budy“[1]. In der Nähe des Hofes war ein kleines Konzentrationslager, das die Landarbeiter beherbergte, errichtet worden. Dort waren die Lebensbedingungen äußerst brutal, härter sogar als in Birkenau. Die schäbigen Baracken, in denen wir mitten im eisigen Winter lebten, waren alle halb offen, mit Spalten in den Wänden und hunderten Ratten. Es gab zweistöckige Bettgestelle und nicht nur einmal urinierte der Mann auf der oberen Etage in seiner Koje und der Urin sickerte auf uns herunter, was mehr als unangenehm war. Theoretisch waren wir zur Arbeit eingeteilt, aber in Wirklichkeit taten wir faktisch nichts. Da es auf dem Hof keine Tischlerei gab, wurden wir zur Schmiede geschickt. Dort wurden hauptsächlich Hufeisen, Deichseln für Fuhrwerke und ähnliches mehr hergestellt. Wir hatten Glück einen jüdischen Chef zu haben. Er kam aus Saloniki. Um unser Fähigkeiten als Tischler zu prüfen, ließ er uns ein Stück Holz hobeln. Shmuel schaffte es irgendwie. Als er jedoch meine vergeblichen Versuche verfolgte, sah er sofort, dass ich nur so tat, als habe ich von der Tischlerei eine Ahnung. Meine Arbeit war völlig nutzlos. Er beschloss also, dass wir beim Ofen bleiben sollten und sagte mitleidig: „Ihre beide wärmt euch hier auf, und Schluss.“ Wenn er uns einen Blick zuwarf, signalisierte er uns damit, dass wir sofort aufstehen mussten. Wenn die Gefahr wieder vorüber war, konnten wie uns wieder beim Ofen niederlassen. Es waren immer ein paar Werkstücke auf der Werkbank, so als ob wir gerade daran arbeiteten. In der Schmiede hat uns nie jemand beim Nichtstun erwischt. Naftali: Nach ein paar Tagen wurde ich in der Baracke zurückgelassen und musste nie mehr zur Arbeit. Es gab ein Krankenrevier im Block, das von einem französischen Arzt geleitet wurde. Dieser Arzt nahm sich meiner an, aus reiner Güte. Ich bedaure sehr, dass ich mich an seinen Namen nicht mehr erinnern kann. Er machte mich zu seinem Assistenten. Er mochte uns beide und half uns, wann immer er konnte. Wir durften uns mit warmem Wasser waschen und das war wirklich sehr wertvoll für uns. Er war mein Beschützer für die gesamte Dauer unseres Aufenthalts in diesem Lager. Zeitweise durfte ich sogar im Krankenrevier übernachten. Shmuel: Zu dieser Zeit arbeitete ich immer noch in der Tischlerei. Wie bereits ausgeführt, arbeiteten wir auf einem landwirtschaftlichen Betrieb. Eines Tages – ich werde das nie vergessen – fielen ein paar Zuckerrüben von einem Wagen herunter. Einer der Arbeiter sammelte die Rüben ein und brachte sie in die Werkstadt. Von dort brachten wir sie in die Schmiede und buken sie auf den glühenden Kohlen. An diesem Tag schwor ich mir, dass ich den Rest meines Lebens nur noch gebackene Zuckerrüben essen würde. Es gab nichts Besseres auf der Welt. Ich habe seither in vielen verschiedenen Restaurants gegessen, von Amerika bis Japan, aber diese Zuckerrüben blieben für mich immer das Beste, was ich je gegessen habe. Auf diese Weise lernten wir, dass wir Zugang zu Zuckerrüben hatten und dass wir uns daraus von Zeit zu Zeit eine gute Mahlzeit bereiten konnten. Der Weihnachtsabend kam. Die Nicht-Juden, die Wärter wie auch die Soldaten, gingen zu ihren Feiern. Sie kamen betrunken zurück und begannen die Häftlinge zu verprügeln. Barfuss standen wir vor unseren Baracken und sahen dem Geschehen zu. Die Grausamkeit kannte keine Grenzen: sie packten die Häftlinge, tauchten sie in Eiswasser, trampelten auf ihnen herum, und schließlich töteten sie einige von ihnen. Obwohl wir schon einiges erlebt hatten, war dies dennoch eine der schrecklichsten Erfahrungen, die wir machen mussten. In dieser Nach zwang man uns ohne Schuhe zu tanzen, immer rund um den Christbaum, der vor der Baracke aufgestellt worden war. Keines der Kinder wurde jedoch geschlagen. Zu Beginn des Jänners 1945 machten Gerüchte über die anrückende russische Armee die Runde. Irgend etwas lag in der Luft; das Gefühl, dass sich bald etwas ändern würde. Kurz vor der Evakuierung – wir gehen darauf weiter unten genauer ein – konnten wir das Artilleriefeuer bereits hören. Für die Erwachsenen deutete dies bereits auf unsere nahende Erlösung und Befreiung hin. Sie erhielten Informationen von außerhalb des Lagers und waren recht gut über die Entwicklungen in der Welt informiert. Verglichen mit ihnen, waren wir Kinder nicht in der Lage, die Ereignisse zu deuten und alles, was wir wussten, rührte von Gerüchten und unserem Gefühl. Obwohl wir damals kein Gefühl für Tage und Stunden mehr hatten, für Zeitabläufe im Allgemeinen, erfuhren wir später, dass diese Situation neunzehn Tage lang andauerte. Am 19. Jänner 1945 wurde der Befehl ausgegeben, dass wir uns auf das Verlassen des Lagers vorbereiten sollten und dass wir einen langen Marsch vor uns hätten. Unser erster Gedanke war, uns ein Versteck zu suchen und den Marsch nicht mitzumachen. Im Lager gab es einen Dreschboden, den wir als geeignetes Versteck bis zum Abschluss der Evakuierung ansahen. Es gab jedoch Gerüchte, dass die Deutschen das Lager und alle Gebäude nach der Räumung gründlich durchsuchen und dann in Brand stecken würden. Der Gedanke, dass wir vielleicht entdeckt oder sogar zu Asche verbrennen könnten, flößte uns enorme Angst ein. So wogen wir einige Zeit die beiden Möglichkeiten ab und wussten nicht, welche der beiden das geringere Übel sein könnte. Schließlich verließen wir das Lager mit allen anderen. Vor unserem Abmarsch erhielten wir noch eine kleine Essensration: einen Laib Brot und ein kleines Stück Margarine. In der Zwischenzeit war der Arzt, der mich „adoptiert“ hatte, plötzlich verschwunden und ich war die einzige Person im Krankenrevier. Ich fand einige Röhrchen aus Gummi und bastelte eine Art von kleinem Ranzen. Ich füllte diesen mit Medikamenten und Verbandszeug. Auch eine Hose, die ich dort gefunden hatte, stopfte ich hinein und Lebensmittel für ein paar Tage. Am folgenden Tag wurden Teile der landwirtschaftlichen Geräte auf Pferdewagen verladen und der Marsch begann: die Fuhrwerke rollten vorne und wir marschierten hinterher. Wir kamen wieder an Auschwitz vorbei. An polnischen Dörfern. Bald hatten wir jegliches Gefühl für Zeit und Richtung verloren. [1] Nebenlager des KL Auschwitz - Budy bei Auschwitz, April 1942 bis Jänner 1945 (mit einer Unterbrechung im Winter 1942/43), Arbeit in einem landwirtschaftlichen Betrieb der SS, 313 Häftlinge (17. 1. 1945).
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