Der Holocaust
Birkenau
Nachdem wir aus dem
Waggon gestiegen waren, ließen uns die Deutschen zuerst einmal im Matsch
stehen. So warteten wir auf die berüchtigte Selektion und sahen was uns
erwarten sollte. Die Baracken, der Rauch und dieser Geruch, es gab keinen
Zweifel, wir atmeten den Geruch von verbranntem Fleisch von Menschen, die
kurz zuvor ermordet worden waren.
Alles rund um uns war
gespenstisch und bedrückend. Der graue Novemberabend wurde bald zur
schwarzen Nacht und wir standen immer noch auf dem selben matschigen Fleck
Erde, der Teil eines endlosen Sumpfes zu sein schien. Das Gebrüll der
Deutschen wurde vom Gebell ihrer aggressiven Hunde übertönt.
Nach mehreren Stunden
mussten wir uns in einer Reihe aufstellen und in Bewegung setzen. Wir
marschierten durch den Schlamm, Schritt für Schritt. Zu beiden Seiten waren
Deutsche und scharfe Hunde. Die Dunkelheit war überall und wir hatten keine
Ahnung, wohin sie uns brachten. Dann betraten wir das ehemalige
Zigeunerlager von Auschwitz-Birkenau. Wir waren die einzigen Insassen.
Später erfuhren wir, dass unser Transport der erste war, der nicht auf
direktem Wege in die Gaskammern ging. Am 1. November 1944 war eine neue
Richtlinie in Kraft getreten: der Betrieb der allgemeinen
Vernichtungsmaschinerie wurde eingestellt. Daher wurden neue Häftlinge nicht
mehr sofort bei ihrer Ankunft exekutiert. Bis zu diesem Tag waren die
Massentötungen zahlenmäßig so enorm, dass sie oft die Kapazitäten der
Krematorien überstiegen. Darum loderten auch noch Tage nach der neuen Order
die Öfen. Auch bei unserer Ankunft stieg der Rauch der verbrennenden
Menschenkörper immer noch zum Himmel empor.
Wir wurden alle in ein
Gebäude, das als Quarantäneblock bezeichnet wurde, gebracht. Unmittelbar
daneben befand sich Block B. Wir gingen zum Zaun und fragten die Häftlinge
auf der anderen Seite, was uns erwarten würde. Sie zeigten nur auf die
Schornsteine des Krematoriums und sagten: „Seht ihr die Flammen? Dahin
werdet ihr bald gehen. Es gibt kein Entkommen.“
Wir kehrten zu unserer
Baracke zurück und krochen in die Stockbetten. Fürchterliche Schreie und der
Lärm von Verprügelungen ließen uns immer wieder aus dem Schlaf hochfahren.
Die Angst paralysierte uns. Die gellenden Schreie setzten uns sehr zu und
wir kletterten aus unseren Schlafkojen. Wir schlichen in die Mitte der
Baracke. Dort befand sich ein offener Raum und ein Korridor mit einem lang
gezogenen Ofen, den es in allen Baracken gab. Wir sahen drei Männer auf dem
Boden gekrümmt liegen. Sie waren von einer Menschengruppe eingekreist und
man schlug und trat auf sie ein. Die drei flehten um ihr Leben, aber die
anderen prügelten weiter auf sie ein, mit Eisenstangen, bis sie tot waren.
Dies geschah vor aller Augen. Wir waren zutiefst schockiert und wollten
wissen, was da vor sich gegangen sei. Die umstehenden Juden antworteten:
„Das ist schon in Ordnung. Das ist schon in Ordnung.“ Man erklärte uns, dass
diese drei Männer Informanten aus der Slowakei gewesen seien. Sie seien von
Leuten des geheimen Widerstands vor der Ankunft in Birkenau aus dem Zug
geholt worden. Erst da verstanden wir, warum der Zug einmal kurz angehalten
worden war und warum dabei Namen aufgerufen worden waren.
Nachdem die drei getötet
worden waren, wurden sie in den Elektrozaun geworfen. Damit war die
Angelegenheit erledigt. Für uns war dieses Geschehen jedoch furchtbar
grausam.
Am folgenden Tag
passierte nichts. Am Nachmittag kamen zwei Kapos um unsere Namen zu
registrieren. Sie meinten, dass etwas noch nie Dagewesenes geschehen würde:
Allen Kindern, auch den ganz kleinen, wurden ihre Nummern in den Arm
tätowiert. Sogar ein Neugeborenes wurde tätowiert. Die Elter waren mit einem
fürchterlichen Dilemma konfrontiert: entweder sie gaben ihr Baby zur
Tätowierung weg oder man würde sich sofort „um das Baby kümmern“. Sie hatten
offensichtlich keine Wahl.
Wir taten unser Bestes,
sodass wir zusammen bleiben und fortlaufende Nummer bekommen konnten. Diese
wären für uns Kinder leichter zu merken und – das erschien uns noch viel
wichtiger – würden uns möglicherweise helfen, beisammen zu bleiben. Wir
bekamen also folgende Nummern: Vaters Nummer war 14024, Shmuels 14025 und
meine 14026.
Die Prozedur des
Tätowierens war alles andere als angenehm. Die Leute von der anderen Seite
des Zauns erklärten uns aber, dass wir uns glücklich schätzen konnten,
nummeriert worden zu sein. Es wäre nämlich ein Hinweis dafür, dass wir noch
eine Weile im Lager bleiben würden.
Nach der ersten Woche
wurden die Frauen von den Männern getrennt. Mutter wurde weggebracht. Von da
an wussten wir nichts mehr über sie.
Der Hunger und der Durst
setzten bald ein. In der Baracke mit den Duschen war ein Schild angebracht:
„Wasser trinken verboten! Das Wasser ist mit Typhus verseucht.“
Naftali: Für mich war
Trinken immer wichtiger als Essen. Der morgendliche Kaffee war schlammig.
Ein viertel Brotlaib war unsere Essensration für einen Tag. Weil ich so
großen Durst hatte, trank ich trotz aller Warnungen das Duschwasser. Zum
Glück wurde ich nicht krank.
Diese Woche war
fürchterlich. Draußen war es regnerisch und schlammig und in den Baracken
war es schrecklich kalt. Am erschreckendsten war aber diese totale
Ungewissheit, was mit uns werden sollte.
Einige Tage nachdem wir
in Birkenau angekommen waren, wurde uns befohlen, alle unsere Habseligkeiten
abzuliefern und in die Duschbaracke zu marschieren. In einer riesigen Halle
mit Bänken und Haken an den Wänden mussten wir uns ausziehen. Völlig nackt
wurde uns befohlen zum nächsten Raum weiterzugehen. Wie wir da alle nackt in
einen der nächsten Räume weiterdrängten, durchfuhr uns die Panik, als wir
eine Tafel erblickten: Brausebad. Die Menschen wussten, was das bedeutete.
Wir waren sicher, dass wir am Ende unseres Weges angelangt waren.
Zu unserer unermesslichen
Freude jedoch kam richtiges Wasser aus den Duschköpfen. Wir hatten sogar
etwas Seife zur Verfügung. Nach der Dusche wurden wir in einen anderen
großen Raum gebracht. Dort scherten Friseure den Menschen alle Haare. Als
ich an der Reihe war, schrie mich der Friseur an weil ich noch keine
Körperhaare hatte. Aber nach ein paar Sekunden erkannte ich, dass er mich
nur auf den Arm genommen hatte; Er war wie alle hier auch nur ein Häftling.
Vaters Brust war sehr behaart gewesen und plötzlich war er ganz kahl. Alle
schauten plötzlich völlig fremd aus. Im vierten Raum wurde uns
Häftlingsbekleidung zugeworfen, wir durften jedoch unsere eigenen Schuhe
behalten. Diese Schuhe sollten in unserem Kampf ums Überleben unentbehrlich
sein.
Als wir aus der Baracke
traten, sahen wir eine riesige Gruppe nackter Frauen jeglichen Alters beim
Appell. Wir hatten noch nie nackte Frauen gesehen und ihr Anblick war für
uns daher äußerst eindrücklich.
Auf unserem Weg zurück
trafen wir Herrn Wertheimer. Er war ein alter Bekannter unserer Mutter aus
der Stadt Vrbové und war schon seit 1942 im Lager. Er erkannte uns und gab
uns einen ganzen Laib Brot. Dies stellte im Lager einen beträchtlichen Wert
dar. Herr Wertheimer versuchte, uns aufzumuntern und fragte nach dem
Verbleib unserer Mutter. Wir erklärten ihm, dass sie von uns getrennt worden
war und dass wir glaubten, sie einmal gesehen zu haben. Da er in der
Lagerverwaltung irgendeine Funktion bekleidete, versprach uns Herr
Wertheimer herauszufinden, wo sie sei.
Es war ein Glück, dass
wir bei unserem Vater bleiben konnten. Er tat alles, dass wir zusammen
bleiben konnten. Schon zu der Zeit, als noch beide Eltern bei uns waren,
lernten wir sehr wichtige Verhaltensregeln von ihm. Ein Beispiel: Wann immer
jemand kam und uns fragte, „Wer ist ein erfahrener Tischler? Wer ist
gelernter Schuster? Wer ist Arzt?“ etc., unterließ es Vater, sich zu melden.
Er verstand, dass die Leitung nach Leuten suchte, die irgendwelche
Hilfsdienste machen sollte. Oder aber die Quoten für Deportationen auffüllen
sollten. Sie tarnten ihre Absichten, indem sie diejenigen anlockten, die
dachten, dass sie für Tätigkeiten in ihren angestammten Berufsfeldern
ausgesucht würden. Dank dieser Vorgehensweise blieben wir noch einige Tage
lang beisammen.
Zu dieser Zeit wurde das
Essens immer schlechter und immer weniger. Wegen der Lebensmittelknappheit
stahlen die Kapos viel Nahrung für sich selbst. Immer wenn ein Laib Brot in
fünf Portionen für fünf Personen geteilt werden musste, nahmen sie das
größte und beste Stück aus der Mitte des Laibes für sich. Immer befanden wir
uns im gleichen Dilemma. Sollten wir das Brot sofort bei der Essensausgabe
ganz aufessen oder sollten wir es nach und nach erst später essen. Meistens
entschieden wir uns für die erste Variante, denn wir mussten immer fürchten,
dass jemand das restliche Brot stehlen könnte. Mehr als einmal fanden
diejenigen, die ihre Brotration versteckt hatten, dass es am nächsten Morgen
gestohlen worden war.
Die Zeit verging und wir
waren immer noch ohne Beschäftigung. Der Hunger und die Appelle waren eine
Tortur. Die Appelle fanden täglich um vier Uhr Nachmittags statt. Alle
Baracken mussten geräumt werden. Alle Häftlinge standen in Reih und Glied
vor ihren Baracken und der Barackenälteste musste seine Männer durchzählen
und die Zahl dem Kommandeur oder seinem Stellvertreter melden. Die Zahl der
gezählten Männer musste mit den nur den Kommandeuren bekannten
Häftlingslisten übereinstimmen. Solche Anwesenheitskontrollen wurden Tag für
Tag durchgeführt. Sie dauerten mindestens eineinhalb Stunden. Wenn aber eine
Person fehlte oder gestorben war, stimmten die Zahlen natürlich nicht und
wir mussten drei oder vier Stunden stramm stehen. Sogar die Toten mussten
zum Appell herangeschleppt werden. Mitunter mussten wir auch eine sehr
demütigende Übung vollziehen: Immer und immer wieder mussten wir unsere
Mützen aufsetzten, um sie gleich wieder abzunehmen. Wir mussten das so lange
tun, bis wir es alle gleichzeitig machten. Manchmal wiederholten wir diese
Übung dutzende Male.
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