Die Brüder Fürst BRATIA FÜRST |
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Der HolocaustDer Todesmarsch[1]Der Beginn des Marsches erschien uns noch nicht so schlimm. Doch die eisige Kälte drang rasch durch die dünnen Kleider bis tief in die Knochen. Der lange Marsch bis spät in die Nacht überstieg schnell alle unsere Kräfte. Bereits am Ende des ersten Tages lichteten sich die Reihen merklich. Wir marschierten in der Gruppe – hielten uns in der Mitte, nicht in der ersten Reihe – und wir schauten nicht zurück. Das waren die Regeln des Überlebens. Der Altersunterschied zwischen uns beiden war nicht besonders groß. Dennoch mussten am Ende des ersten Tages die Älteren von uns die Jüngeren stützen, um zu verhindern, dass sie zurückblieben. Das war aber nicht nur eine Sache der körperlichen Stärke sondern hieß auch seelische Kraft und Entschiedenheit. Im Laufe des Marsches merkten wir auch, dass er an verschiedenen Orten seinen Ausgang genommen hatte. Entlang der Straße, wo hin man auch schaute, sahen wir viele tote Körper. Viele lagen in den Gräben am Straßenrand, andere hingen in den Bäumen nahe der Straße. Wir begriffen rasch, dass diejenigen, die mit dem Tempo der Marschierenden in der Hauptgruppe nicht Schritt halten konnten und allmählich nach hinten ans Ende des Zuges zurückfielen, von den deutschen Wachen erschossen wurden. Den Männern und Knaben, die sich seitlich von der Gruppe entfernten, widerfuhr ein ähnliches Schicksal. Man muss sich auch die Eiseskälte in Polen vom Jänner 1945 vergegenwärtigen. Jeder von uns marschierte nur mit einem Hemd und einer Hose bekleidet, ohne Unterwäsche, Jacke, Hut oder Mütze. Um kurz nach vier Uhr nachmittags wurde es dunkel, aber wir marschierten bis spät in die Nacht. Und die Temperaturen fielen dann auf viele Grade unter Null. Die Kälte war jedoch nicht unser einziger Feind. Keiner wusste, wohin und wie lange wir marschieren mussten. Immer wenn am Horizont ein Lichtschein auftauchte, hofften wir, dass es nun bald eine Rast geben würde. Leider zerstörte die Realität immer wieder aufs neue diese Hoffnungsschimmer. Als wir bei den Lichtern angelangt waren, gingen wir an ihnen vorbei und marschierten weiter. Diese Tage und Nächte stellten alles, was wir bisher erlebt hatten, weit in den Schatten. Während wir in der Vergangenheit meist völlig passiv verharrten und eigentlich nichts tun konnten, um unser Schicksal zu beeinflussen, war während dieses Marsches unser Schicksal zum ersten Mal in unsere eigenen Händen gelegt. Nur wir selber konnten unsere Willenskraft und Bereitschaft, für das Überleben zu kämpfen, unter Beweis stellen. Im Lager erhielten wir Befehle, von einem Block in den anderen zu gehen. Wir waren immer irgendwelchen Regeln unterworfen. Während des Marsches musste jeder für sich entscheiden, ob er, bei allem Leiden, weiter gehen wollte oder ob er einfach jede Hoffnung aufgab und zusammenbrach. Obwohl der Kopf immer sagte: „Halte durch, halte einfach durch!“, konnte der Rest des Körpers, völlig erschöpft, kaum die Stimme der Vernunft vernehmen. Wir wussten, dass sie uns töten würden, aber dennoch war dieser Gedanken tief in unseren Seelen einfach undenkbar. Daher sagten wir immer und immer wieder zueinander: „Wir müssen es schaffen, wir müssen weitergehen!“ Es stellte sich heraus, dass unser Gesundheitszustand auf unserer Seite war. Jede kleine Krankheit oder körperliche Schwäche hätte uns sehr rasch getötet. Wir haben nie das Stadium des totalen Zusammenbruchs erreicht und wir haben daher nie dem Tod direkt in die Augen blicken müssen. Andererseits muss man sich immer vor Augen halten, dass wir, die jüngsten und kleinsten, zusammen mit erwachsenen Männern marschierten. Der Transfer der Lager von Polen in das Deutsche Reich war ihre Reise, und nicht die unsere. Wir waren lediglich Gefährten, die beweisen mussten, dass sie mindestens so viel Kraft haben, während rund um uns unzählige Menschen tot umfielen. Am ersten Tag unseres Weges genehmigten wir uns einige der Vorräte die wir bei uns trugen, am zweiten Tag war das aber viel schwieriger: weil wir nicht wussten, wie lange wir marschieren würden, entschieden wir uns, die Brotration aufzusparen. Shmuel: Ich erinnere mich noch an einen polnischen Bauern, der unserer Karawane auf seinem Pferdeschlitten entgegen kam. Auf seinem Schlitten erblickte ich einen Brotlaib. Was für ein Anblick! Das Brot schien mir völlig unwirklich, als ob es aus einer anderen Welt stammen würde. Zu meiner großen Verwunderung zeigte mir diese Begebenheit jedoch, dass auf dieser Welt immer noch ein normales Leben existierte, und dass nicht jeder Mensch die tiefsten Abgründe des Elends erreicht hatte, wie das mit uns auf unserem endlosen Marsch geschehen war. Am ersten Tag war der Anblick der toten Körper am Straßenrand für uns noch mehr oder weniger trüb und verhohlen, aber als wir weiter gingen und auf immer mehr und mehr Tote stießen, wurden die Szenen herzzerreißend, vor allem auch durch ohrenbetäubende Schreie, das Stöhnen und Schießen. Die marschierenden Menschen redeten ununterbrochen aufeinander ein. Einige weinten, weil sie das Leiden nicht mehr ertrugen und ihre Widerstandskraft zu Ende ging. Viele waren alt, krank, hungrig, verwundet, ohne Schuhe an ihren Füßen. Auch wir konnten kaum weitergehen, waren kaum in der Lage unsere Köpfe aufrecht zu halten. Schon am ersten Tag unseres Marsches gerieten wir in einen Schneesturm. Am folgenden Tag schien die Sonne und die Bedingungen waren viel besser, aber wir waren schon völlig erschöpft. Wir gingen mit „gescheiten“ Erwachsenen. Sie wussten unseren Standort und wohin es gehen sollte. Wir haben ihre Beteuerungen aber nicht sehr ernst genommen, sondern zogen es vor, uns auf unsere eigenen Mühen zu konzentrieren, Schritt für Schritt. Auf ein besseres Morgen zu hoffen, erschien uns nicht sehr sinnvoll, obwohl auch wir uns danach sehnten, dass die Hoffnung doch zur Realität werden würde. Am Ende des zweiten Tages erreichten wir eine Schule. Dort sollten wir die Nacht verbringen. Wir erhaschten einen Platz in der Nähe des Ofens, der immer noch warm war. Am folgenden Morgen erlebten wir etwas ganz besonderes: als wir uns für den Marsch sammelten, kam ein Mann und gab uns ein Sandwich mit Gänseleber. Er lebte wohl in der Gegend, und nachdem er uns gesehen hatte, tat er das Menschlichste, das jemand tun konnte. Seine Geste stärkte unseren Glauben an die Menschheit. Es zeigte uns auch, dass es in der lokalen Bevölkerung anständige Menschen mit Empathie und Gefühl gab. Obwohl dieses Stück Brot nicht unser Leben rettete, werden wir diesen Mann und was er getan hat nie vergessen. Der dritte Tag begann. Obwohl wir uns nicht erinnern können, wer an den vorhergehenden Tagen neben uns marschierte, erkannten wir keines der Gesichter um uns. Alles war schemenhaft und durcheinander. Das Wetter unvorstellbar schlecht. Die Menschen gingen in engen Trauben aneinander gedrückt Schritt für Schritt. Müde und erschöpft. Die traurigen Erinnerungen des vorherigen Tages geisterten durch unsere Seelen. Mehr und mehr Menschen brachen zusammen und ihr Verschwinden war herzzerreißend. In den Nachmittagsstunden erreichten wir Breslau, einen großen Eisenbahnknotenpunkt in Polen. Zu dieser Zeit war es Teil des Deutschen Reiches. Am Bahnhof wurden wir in eine Halle, die für Lokomotiven vorgesehen war, gepfercht. Die Halle war bereits gefüllt mit Menschen, die schon vor uns angekommen waren. Wir gingen durch die Menschenmassen auf der Suche nach Bekannten. Mehr als alles andere wollten wir unseren Vater finden. Aber alles Suchen half nichts. In der Nacht dann, es war stockdunkel, wurden wir in Gruppen auf offene Waggons verladen. Sie waren voll mit Schnee, manchmal einen Meter hoch. Achtzig oder neunzig Personen wurden in jeden dieser Waggons gepfercht. Der Schnee und vor allem die Überfüllung machten ein Sitzen unmöglich. Einige Menschen waren schon beim Erklettern der Waggons gestorben. Männer, die bereits zu schwach waren, um selbst hinaufzuklettern, wurden einfach hineingeworfen. Einige dieser Menschen sanken auf den Boden des Waggons und wurden dann von den stehenden zertrampelt. Nach kurzer Zeit wurden die Tore der Waggons geschlossen und der Zug rollte an. Nach und nach bekamen wir etwas mehr Platz, denn die Leichen wurden in einer der Ecke aufeinander gestapelt. Es gab immer noch nicht genügend Platz, um sich hinzusetzen, aber die Menschen konnten kurz knien und sich strecken. Man muss sich auch in Erinnerung rufen, dass wir seit Beginn des Marsches, das waren also drei oder vier Tage, keine Essensrationen bekommen hatten. Die Fahrt in den offenen Waggons dauerte ca. eineinhalb Tage. Ohne Stopp. In der Zwischenzeit waren weitere Menschen gestorben und wir konnten uns endlich auf den Boden setzen. So wichtig es für unsere schmerzenden Glieder war, half es doch nicht in unserem Kampf gegen den Hunger und die Eiseskälte, die Tag und Nacht durch den kalten Wind noch viel fürchterlicher schien. Um unseren Hunger zu stillen, lutschten wir die mit Zucker überzogenen Medikamente, die wir in meinem improvisierten Ranzen bei uns hatten. Kann man sich eine solche Situation überhaupt vorstellen? Der Zug hielt an einem Bahnhof und wir konnten den Waggon kurz verlassen. Shmuel und ich kamen an einem dampfenden Rohr der Lokomotive vorbei und füllten eine kleine Blechdose mit heißem Wasser. Wir lösten die restliche Margarine darin auf und tranken diese fettige Brühe, als ob es wohlschmeckende Suppe wäre. Auch dieses Mahl blieb für uns unvergesslich. Dann ging es wieder weiter, der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Nach Tagen und Nächten der Fahrt waren wir alle völlig erschöpft, im Grenzbereich zwischen Sein und dem Nichts. Wir trafen auf einen Mitreisenden, der ein ähnliches Schicksal wie wir durchmachte. Es war ein deutscher Soldat, halb verhungert und fast zu Tode erfroren. Keiner wusste was passieren würde. Wie lange noch würde unsere Fahrt dauern? Einen Tag? Zwei Tage? Mehr? Wir verrichteten unsere Notdurft in einer Ecke des Waggons. Unsere damalige Lage entzieht sich jeder Beschreibung und übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen.
[1] KZ Auschwitz: Gegen
Ende des Jahres 1944 begann die SS angesichts der sich nähernden
Offensive der Roten Armee, die Spuren ihrer Verbrechen zu
verwischen. Dokumente wurden vernichtet, einige Gebäude abgerissen.
Andere Gebäude wurden in Brand gesteckt oder in die Luft gesprengt.
Mitte Januar 1945 erging der Befehl zur endgültigen Liquidierung des
Lagers.
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